© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/08 25. April 2008

CD: Klassik
Ohrenwein
Jens Knorr

Wie "volkstümlich" ist eigentlich die Musik Arnold Schönbergs, "Pierrot lunaire" und die Serenade op. 24 zumal? Und wie dodekaphonisch die Musik der Schrammelbrüder? Wie wienerisch sind die Art Chansons auf Texte von Rühm und Jandl, die Friedrich Cerha seiner Geburtsstadt, der Nekropole Wien aufs Grab gesch(m)issen hat?

Schönbergs Hoffnung, man möge einst seine Melodien kennen und nachpfeifen, scheint beim Hören des die Serenade eröffnenden Marsches ihrer Erfüllung ferner denn je. Und doch klingt, in der Expressivität auf den "Pierrot Lunaire" zurückweisend, in der Konstruktion auf das Quintett op. 26 voraus, ein fremd vertrauter, ironischer Ton an. Der muß wohl von dem Wein kommen, den man mit Ohren trinkt, aus dem späten vorvorigen Jahrhundert, von den Tänzen und Liedern aus dem Repertoire ebenjener Musiker des Volksmusik-Quartetts in der Besetzung zwei Geigen, Kontragitarre, G-Klarinette bzw. Knopfharmonika, deren Kunst Strauß und Brahms geschätzt haben - und Schönberg auch.

Immer an der heimlichen Nabelschnur entlang, hat Uli Fussenegger, Dramaturg und Kontrabassist des Klangforum Wien, "Schönberg & die Schrammelbrüder" zusammengebracht (col legno COL 20276). Und da die Musiker ihr Klangforum als Forum authentischer Aufführungspraxis verstehen, versicherten sie sich der Unterstützung Walter Soykas von den "Extremschrammeln", der sich um die Wiener "Ethnomusik" des 19. Jahrhunderts verdient gemacht hat. Ihr zärtliches, hingebungsvolles Spiel holt noch die verborgensten Ausdrucksnuancen aus den von Soyka kunstvoll arrangierten Liedern und Tänzen ans Licht und läßt ihnen eine Modernität zuwachsen, daß in solcher Gesellschaft Tanzszene und "Lied ohne Worte" aus Schönbergs Serenade bestens aufgehoben scheinen. Walter Raffeiner - Parsifal bei Berghaus, Gondremarck bei Marthaler, Schauspieler bei Böffgen - nimmt sich der Lieder mit einer Inbrunst an, als ginge es um Leben und Tod. Aber um nicht weniger als Leben und Tod geht es ja. Raffeiners gestisch genaues Singen macht die vielbeschworene Wiener Gemütlichkeit als das Unvermögen kenntlich, dem Sensenmann davonzulaufen. All jene, die ihn glücklich hinter sich gebracht, dürfen sich von Friedrich Cerhas abgrundbösen Chansons trösten lassen, wie Raffeiner sie singt.

Die Wiener Melange deutscher Befindlichkeiten vervollständigen neun der dreimal sieben Gedichte von Albert Giraud in der Vertonung von Arnold Schönberg, aus dem alten Zusammenhang gerissen und in den neuen panoptischen hinein. Jenny Renate Wicke erfaßt Notentext und Sinngehalt der "Sprechmelodie" vollkommen und setzt sie mit wahnwitziger Klarheit um, die diesem zentralen Werk der zweiten Wiener Klassik einzig angemessen ist. Ihre Interpretation lenkt die Aufmerksamkeit des Hörers nicht vom Bau der Kompositionen ab, sondern mitten da hinein. Wer den "Pierrot lunaire" so zu hören vermag, wie Wicke ihn singt, der vermag auch die Spuren zu lesen, die der Komponist zur Wiener Volksmusik gelegt hat. Und der wird auch einige der Melodien wiederkennen und nachpfeifen können, wenn er sich denn traute.

Ziemlich zum Ende dieser schönen und lehrreichen und viel zu kurzen CD gibt es den Finalsatz der Schönberg-Serenade: "Und es wäre die Serenade nicht das reale Zeugnis einer großen menschlichen Existenz", schreibt Adorno 1925, "erschütterte nicht ihre tragische Heiterkeit stets und stets wieder das gewaltige Ich, das in ihr sich beschied." Der großen Jenny Renate Wicke, am 30. Juni 2007 an Krebs gestorben, ist das Album gewidmet, und es ist, als ließen die Instrumentalisten des Klangforum Wien "Das letzte Glöcklein" der Schrammelbrüder nur für sie allein ausklingen.

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