© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/08 25. April 2008

Zwei literarische Recken und ein Eisbärbaby
Am Morgen nach ihren Nürnberger Lesungen spazierten Martin Walser und Eckhard Henscheid einträchtig durch den Zoo
Werner Veith

Es kann doch kein Zufall sein, wenn ein Satiriker am gleichen Abend, zur gleichen Uhrzeit und in der gleichen Stadt eine öffentliche Lesung ansetzt wie ein Großschriftsteller. Seit Monaten ist Martin Walser für den 15. April im Literaturhaus Nürnberg angekündigt, und plötzlich will auch Eckhard Henscheid auftauchen, im Buchladen Zweitausendeins mit seiner "Literaturkritik". Seine Buchbesprechungen sind berüchtigt und gehen schon mal weit unter die Gürtellinie, tiefer als die Verrisse eines Marcel Reich-Ranicki. Worte wie "grüngiftender Dummkopf", "ewige Großtörin" (Luise Rinser), "siebenfacher Kraut- und Rübenkopf" (General Gert Bastian) "Hirnverwüster" und "Dumpfnickel" zählen noch zu seinen höflichen Urteilen. "Der Böll war als Typ wirklich Klasse. Da stimmten Gesinnung und Kasse. Er wär' überhaupt erste Sahne, wären da nicht die Romane", reimte Henscheid seinerzeit mit seinem Kollegen Robert Gernhardt von der Satirezeitschrit Titanic. 

Was wird Henscheid zu Walsers Roman "Ein liebender Mann" wohl sagen? Bekanntlich geht es um die Begegnung zwischen Goethe und Ulrike von Levetzow (JF 13/08). Er ist 73 Jahre alt, sie 19. Schon hört man Henscheid lästern: Jetzt denkt Walser wohl, er sei wie Goethe, soweit hat er es gebracht in seinem Wahn. Henscheid kennt sich aus: "Goethe unter Frauen. Elf biographische Klarstellungen" stammt aus seiner Feder.

Und in der Tat: Walser zeigt viele offene Flanken. "Wer mich nicht liebt, darf mich nicht beurteilen", sagt Martin Walser gegenüber den Nürnberger Nachrichten. Die soziologische Debatte um Altersunterschiede gehe ihn nichts an. Er sei schließlich keine Auskunftei. "Das ist ein Roman. Basta!"

Martin Walser im Nürnberger Literaturhaus (und zwei Tage später in Lauf an der Pegnitz): In wenigen Sätzen skizziert er Marienbad im Jahre 1823, den Ort der Handlung. Dann hebt sich Walsers Stimme, voller Energie und Dramatik, fast eine Stunden lang. Eine Hand verweilt auf der Buchseite, die andere holt weit aus. Plötzlich klopft er auf das Rednerpult, dann rudert er gleich mit beiden Händen. Schließlich bricht Goethe vollends durch, jetzt im Monolog über das Altern, jetzt jetzt, als Walser zu Goethe verschmilzt, als er in der Ich-Form von seinem besten Stück erzählt, das so schwer zu zähmen sei; das kleine Ding, das oft das Ganze bestimme; das kleine Ding, wofür es nur medizinische und vulgäre Worte gebe.

Nach der Lesung erzählt der 81jährige, daß er den "Liebenden Mann" in acht Wochen geschrieben habe und schon an einem neuen Roman mit dem Titel "Muttersohn" arbeite. Da gehe es um einen 30jährigen Anton und seine Mutter. Die Mutter möchte Anton immer weismachen, daß er ohne einen Mann auf die Welt kam - klingt nach politischer Geschlechtsumwandlung?

Zur gleichen Zeit, wenige hundert Meter von Walser entfernt, zitiert ein Mann in brauner Lederjacke und dunklen Jeans Helmut Kohl: "Die Pfalz beheimatet einen fröhlichen und weltoffenen Menschenschlag, der viel Sinn für gesellschaftliches Zusammenleben und die Freuden der Zeit hat und dem dogmatischen Denken abgeneigt ist." Mit solchen Sätzen konnte man in den 1960er Jahren einen Doktortitel gewinnen, schmunzelt der silbergraue Lockenkopf. "Heute hat doch die Bild-Zeitung von Kohls Hochzeit berichtet", erzählt Henscheid den Zuhörern im Buchladen Zweitausendeins. Dann befreit er einige Exemplare seiner neunbändigen Werkausgabe aus der Plastikhülle und liest vorwiegend Amüsantes aus den 12.000 Seiten: eine konfuse Bahnfahrt durch die Schweiz, konfuse Meldungen aus fränkischen Zeitungen und konfuse Finanzgeschäfte aus einer Zeit, als das Bier im Wirtshaus noch 1,80 Mark kostete.

Zu Martin Walser kommen ihm keine bösen Worte über die Lippen, lediglich ein Murmeln vom "Literaturcafé für Millionäre" ist zu vernehmen. Bereits am Vormittag spazierten Walser und Henscheid einträchtig durch den Nürnberger Tiergarten, um das Eisbärenbaby "Flocke" zu sehen.

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