© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/08 18. April 2008

Im Rausch des Fallens
A. Strindbergs "Fräulein Julie" im Stuttgarter Schauspiel
Axel Michael Sallowsky

Wer hat heute noch Angst vor August Strindberg? Und es muß auch gefragt werden: Wer und was ist sein "Fräulein Julie" überhaupt noch in unserer heutigen, ach so aufgeklärten und von (fast) allen Tabus befreiten und Tabus nicht mehr fürchtenden Gesellschaft?

Wenn sich zum Beispiel eine monegassische Prinzessin vorübergehend mit einem eidgenössischen Zirkusdirektor amüsiert, dann interessieren sich dafür heutzutage lediglich die Boulevardpresse und deren voyeuristische Leserschar. Ansonsten löst ein solches amouröses Intermezzo zwischen zwei aus "unterschiedlichen Kreisen" stammenden Menschen weder im Palast der Prinzessin noch in der profanen Welt draußen einen Sturm moralischer Empörung aus. Und in klein- wie in großbürgerlichen Häusern verhält es sich ebenso. Wer da wen moralisch, sexuell und gesellschaftlich zu Fall bringt oder in Traumata stürzt und bis zum Selbstmord treibt, auch das interessiert heutzutage keinen Menschen mehr.

Die (schlagbaumlosen) Grenzen bei der Überwindung und Zertrümmerung gesellschaftlicher und kultureller Tabus sind fließend, alles ist erlaubt, auf der Theaterbühne ebenso wie im wirklichen Leben, dem Sündenfall droht weder weltliche Strafe noch Höllenfeuer.

Was also soll ein "Fräulein Julie", nicht schockend und aufklärend schon längst nicht mehr, dann noch auf der Bühne von heute? Barbara-David Brüesch hat sich, das sieht man ihrer Stuttgarter Inszenierung erfreulicherweise an, offenkundig ernsthaft mit Strindberg auseinandergesetzt und sich darum bemüht, auf diese Fragen Antwort zu geben. Und siehe da: Ihr gelang das Kunststück, Strindberg auf faszinierende Weise auferstehen zu lassen und das tragische Schicksal seiner Julie mit Hilfe kleiner inszenatorischer Genie-Streiche und großartiger schauspielerischer Leistungen der drei Darsteller glaubwürdig in die Gegenwart zu transponieren: Lisa Wildmann verkörpert mit Haut und Haaren, mal in blutvoller Ekstase, mal als Faustisches Gretchen das sich selbst zerstörende Fräulein Julie auf geradezu beängstigende Weise. Thomas Eisen als Jean ist, facettenreich an brutaler Stimme und zarter Gestik, der untertänige Knecht und zugleich der diabolische Widerpart, der sich am Unglück und Ende der von ihm verführten Kreatur lustvoll weidet. Susanna Fernandes Genebra als Kristin ist die dritte brillante Kraft in diesem Psycho-und Gesellschafts-Thriller.

Barbara-David Brüesch beweist in ihrem subtilen Kammerspiel, daß sich zwar die gesellschaftlichen Formen verändert haben, das ihnen zugrunde liegende Prinzip hingegen kaum: Es geht auch hier immer noch (oder nur) um das traditionelle oder verschiebbare Rollen- und Wechselspiel zwischen Mann und Frau, Frau und Mann, also immer wieder auch um die Verteilung von (sexueller und politischer) Macht.

Dieses böse und banale Spiel vom Verlust der menschlichen Würde, von Selbsterniedrigung, von Überdruß und sexueller Lust im Rausch des Fallens, von Liebessehnsucht, von Demütigung des anderen findet (das verrät diese in sich stimmige Inszenierung) tagtäglich sowohl in der Familie als auch im Beruf statt, setzt sich in der Politik fort und wiederholt sich in der stets neu zu erkämpfenden Wahrnehmung und engagierten (Selbst-)Darstellung der Frau in einer von Männern dominierten Wirklichkeit. Heute noch. Stürmischer Applaus.

Die nächsten Vorstellungen von "Fräulein Julie" im Schauspielhaus Stuttgart, Oberer Schloßgarten 6, finden statt am 21. April, 3., 8. und 22. Mai Kartentelefon: 07 11 / 20 20 90

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