© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/08 11. April 2008

Vom Frühling nichts mitbekommen
Stefan Wolle erinnert an 1968 in der DDR: Es blieb der Traum vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"
Thorsten Hinz

Bereits der Titel "Der Traum von der Revolte" deutet an, daß dieses Buch vor allem von einem Nicht-Ereignis handelt. Während im Westen die Revolte des Kindergartens von 1968 langfristig Politik, Staat und Gesellschaft in einen solchen verwandelte, blieb in der DDR das originäre 68er-Erlebnis aus. Hauptereignis des Jahres war der "Prager Frühling", der auf die DDR ausstrahlte und dessen Niederschlagung zu einer bis 1989 anhaltenden gesellschaftlichen Depression führte. Mit den Büchern "Untergang auf Raten" (erschienen 1993, verfaßt zusammen mit Armin Mitter) und "Die heile Welt der Diktatur" (1999), wo es um die siebziger und achtziger Jahre geht, hat sich der Historiker Stefan Wolle zu einem der kompetentesten Chronisten der DDR entwickelt. Wolle ist - und das macht sein vorliegendes Buch durchaus wichtig - in punkto Aktenkenntnis und zeithistorischer Empirie unschlagbar.

Seit dem Mauerbau 1961 konnten die DDR-Bürger sich der staatlichen Repression nicht mehr durch Flucht entziehen. Gerade dadurch fühlte sich die SED stark genug, begrenzte Reformen einzuleiten. Diese wiederum weckten Erwartungen und Bedürfnisse, welche die Systemgrenzen sprengten, was zu neuen Kältewellen führte. In dieser Situation blickten Intellektuelle, aber auch Arbeiter hoffnungsvoll nach Prag, wo Parteichef Alexander Dubček im Januar 1968 politisches Tauwetter angesagt hatte. Die westliche Studentenbewegung war ihnen weniger wichtig. Die SED-Führung hoffte freilich, diese für ihre Zwecke instrumentalisieren zu können, insbesondere zur Destabilisierung West-Berlins. Es gab sogar Verhandlungen zwischen Rudi Dutschke mit Ost-Berliner FDJ-Vertretern, aber letztlich überwog die Furcht der SED vor dem Anarchie-Import.

Trotz aller Sympathien für Dubček führte der Einmarsch der Warschauer- Pakt-Truppen nur unter ganz jungen DDR-Bürgern zu nennenswerten Protesten. Wolle spricht von einem "Aufstand der Jeunesse doree", der Kinder der SED-Nomenklatura. Im übrigen begreift er den Titelhelden aus Christoph Heins Roman "Der Tangospieler" (1989), der das Ende des "Prager Frühlings" mit kühlem Desinteresse registriert, als Metapher und schließt daraus, es habe in der DDR "eine schweigende Mehrheit der Gleichgültigen und Angepaßten" gegeben. Das Ergebnis des Jahres 1968 habe darin bestanden, daß die sozialistische Intelligenz "ihr Abkommen mit dem Bösen besiegelt (habe), um weitere 21 Jahre neben den Herrschenden in der Proszeniumsloge des Welttheaters sitzen zu dürfen, bis sie 1989 (...) endlich der Teufel holte".

Das ist zuviel der Ehre und eine groteske Überzeichnung der Stellung und des Einflusses der DDR-Intelligenz. Die Gleichgültigen und Angepaßten bilden überall und zu jeder Zeit die Mehrheit, und selbst die Attitüde der Revolte ist ab einem bestimmten Punkt nichts anderes als die Anpassung an veränderte Kräfteverhältnisse. Wolle übersieht, daß der "Tangospieler" eine Adaption von Camus "Fremden" darstellt, dem Modellfall des entfremdeten Menschen, der angesichts der Absurdität, in die er gestellt ist, keinerlei Handlungsmöglichkeiten für sich erkennt. Das ist etwas ganz anderes als ein bloßes moralisches Versagen und hat in Heins Roman überdies einen handfesten realpolitischen Hintergrund, den Wolle ausspart.

Das absurde Hauptleiden der DDR lag in keinen systemimmanenten Gebrechen, nicht im Reformmangel, nicht in individueller Feigheit oder im obrigkeitsstaatlichen Erbe, sondern in der Tatsache, daß sie ein Abfallprodukt der auferlegten Teilung Deutschlands war. Als institutionalisierte Ideologie sowie als Kunststaat ohne eigene nationale Grundlage bildete sie ein doppeltes Zwangssystem, das nur Bestand haben konnte, wenn der Zwang anhielt. Der aber war so lange unabänderlich, wie die Sowjetunion am Erhalt dieses Gebildes interessiert war. Die DDR war dazu verurteilt zu existieren, selbst eine einsichtige SED-Führung hätte daran nichts ändern können.

Revolten irgendwelcher Art hatten in diesem Rahmen keine Chance, denn jede Lockerung der Machtstrukturen hätte die nationale Frage aufgeworfen und die Existenz der DDR so schnell und gründlich in Frage gestellt, wie das 1989 dann tatsächlich der Fall war. Der "Teufelspakt" der "sozialistischen Intelligenz" mit der Staatsmacht, ihr maximales Insistieren auf einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" noch zu einem Zeitpunkt, als die Opposition in den anderen sozialistischen Staaten diese Idee längst über Bord geworfen hatte, bedeutete aus dieser Sicht den - natürlich völlig irrealen - Versuch, dem nationalen Dilemma einen politisch-utopischen Sinn abzuringen, um die deutsche Teilung nicht einfach nur als Strafe ohne Aussicht auf Begnadigung hinnehmen zu müssen. Gleiches galt übrigens schon für den ohnmächtigen Protest der sozialistischen "Jeunesse doree" von 1968.

Was den Westen betrifft, hatten Norbert Elias, Arnold Gehlen oder Ernst Nolte zeitnah festgestellt, daß die Radikalisierung der Studentenbewegung zum Teil gleichfalls mit der Kriegsniederlage, der deutschen Teilung und dem fehlenden Dach der Nation zusammenhing. In "Deutschland und der Kalte Krieg", dem bis heute bedeutendsten Werk, das aus geschichtsphilosophischer Perspektive zur deutschen Frage verfaßt wurde, schreibt Nolte, daß das Zögern bzw. die Weigerung der West-Berliner Behörden, nach dem Mauerbau die studentischen Fluchthelfer "in der Frontstadt" zu unterstützen, schließlich die ganze Aussichtslosigkeit ihres Engagements für die Wiedervereinigung und gegen die Unterdrückung von Professoren und Studenten in der DDR zur Umlenkung ihrer Aktivitäten führte. Für Stefan Wolle sollten solche Bezüge eine Anregung sein, in Zukunft über eine DDR-immanente Zeitgeschichtsschreibung hinauszugehen.

Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. Ch. Links Verlag, Berlin 2008, gebunden, 256 Seiten, 19,90 Euro

Fotos: Fensterdekoration nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag, 24. August 1968: Jede Lockerung der Machtstrukturen hätte die Existenz der DDR gründlich in Frage gestellt; Kundgebung zum "Kampftag gegen Faschismus und Krieg", Berlin 8. September 1968: Politisch-utopischen Sinn abringen

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