© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/08 11. April 2008

Potsdamer Wortgeklingel
Politische Kultur: Brandenburgs Landeshauptstadt bastelt sich ein Toleranzedikt
Doris Neujahr

In Potsdam geht der Toleranzteufel um. Sein Name ist Heinz Kleger, geboren 1952, von Beruf Philosoph und Sozialwissenschaftler, seit 1993 Professor an der hiesigen Universität. Kleger hat die Hochglanzbroschüre "Für eine offene und tolerante Stadt der Bürgerschaft" verfaßt, die in Cafés und öffentlichen Einrichtungen der Stadt ausliegt und zu der Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) ein Vorwort beigesteuert hat. Der Traktat soll laut Jakobs "in Erinnerung an das Edikt von 1685" - das die bedrängten französischen Hugenotten einlud, sich in Preußen niederzulassen - "eine Neuauflage desselben initiieren". Im Unterschied zu damals soll es von keinem Fürsten verkündet, sondern von den Bürgern selber geschaffen werden. Klegers Entwurf sei "ein Angebot zur Diskussion".

Der Rückgriff auf Preußen klingt interessant, doch zu welchem Zweck erfolgt er? Die Idee zur Neufassung des Edikts sei ihm "kurz nach dem Angriff auf den Deutsch-Äthiopier Ermyas Mulugeta am Ostersonntag 2006 vor einem Potsdamer Bahnhof" gekommen, so Kleger. Später stellte sich heraus, daß der sturzbetrunkene Mulugeta vermutlich selber der Angreifer gewesen war
(JF 26/07). Dieser Vorfall (wie bereits die Ermordung des holländischen Filmemachers Theo van Gogh) hätte Kleger darüber belehren müssen, daß es zuwenig ist, die multinationale Vielfalt als "einen Wert an sich" und "unbezahlbaren Reichtum" zu feiern. Doch statt einer realistischen Problembeschreibung bietet er Wortgeklingel wie "urbane Toleranz", "neue Zivilität" und "neuer liberaler Republikanismus der Städte" verbunden mit der Aufforderung, "Zuwanderung als Chance" zu begreifen. "Toleranz war und ist Bedingung liberaler Zivilisationsdynamik und somit auch erfolgreicher Stadtentwicklung."

New Yorks früherer Bürgermeister Rudolph Giuliani war als Stadtentwickler deswegen so erfolgreich, weil er der öffentlichen Verwahrlosung eine "Null Toleranz"-Politik entgegensetzte. Davon kein Wort bei Kleger, bei dem der zivilgesellschaftliche Kauderwelsch die politische Begrifflichkeit ersetzt. Eine Kapitelüberschrift lautet: "Die grundlegende Toleranzherausforderung: Entwicklung von Bürgerbewußtsein".

Die Sinnleere solcher Formeln erweist sich daran, daß man sie beliebig syntaktisch variieren kann: "Bewußte Toleranz: Herausforderung an die Grundlagen des entwickelten Bürgers". Oder: "Tolerante Bürger entwickeln bewußt grundlegende Herausforderungen." Oder: "Toleranzbewußtsein fordert die Entwicklung bürgerlicher Grundlagen heraus." Klingt das etwa schlechter?

Die preußische Einwanderungspolitik war für alle ein Segen, weil sie stets das Staatsinteresse im Auge behielt. Die Hugenotten, die niederländischen Dammbauer, die böhmischen Weber und Glasbläser gehörten zur - wie man heute sage würde - Leistungselite ihrer Länder. Die Privilegien, die Preußen ihnen beim Landerwerb oder im Erbrecht einräumte, nutzten sie eifrig, um so schnell wie möglich auf eigenen Füßen zu stehen und damit Preußen die erwiesene Güte vielfach zu vergelten. Auch Kleger kann an der Tatsache nicht vorbei, daß die Toleranzfrage sich nicht an polnischen Medizinern, italienischen Pizzabäckern oder mutigen, blitzgescheiten Frauen wie der Rechtsanwältin Seyran Ates oder der Soziologin Necla Kelek entzündet, sondern an einem Lumpenproletariat, das er euphemistisch die "Schwachen der weltweiten Stadtgesellschaft" nennt. Aber: Diese Menschen bedürften neben der "Toleranz" auch der "Solidarität". Das ergebe "sich aus der Anerkennung der Würde des Menschen".

Panayotis Kondylis nannte solche direkte Verknüpfung der "Würde des Menschen" mit politischen Forderungen einen "schlechten Witz". Die Bevölkerungsexplosion bringe ständig Menschen hervor, von denen "jeder seine eigene einmalige und unantastbare Würde" habe, "und obwohl Quantität der Qualität nicht immer förderlich ist, wird doch die Qualität der Würde so definiert, daß sie unter dem Druck der Quantität nicht leiden muß; zehn oder zwanzig Milliarden unantastbare Würden wären deshalb womöglich besser als fünf Milliarden (...)". Denkt man Klegers Logik zu Ende, sieht man die vollendete urbane Katastrophe sich direkt vor der Haustür abspielen.

Kleger bedauert, daß "die Toleranz" in Potsdam "angesichts der niedrigen Ausländerquote (...) bei weitem noch nicht so gefordert (sei) wie in anderen westdeutschen Landeshauptstädten". Warum das ein Manko ist? Weil das "Fremde" und das "Öffentliche, Zivile und Urbane (...) einander bedingen". Bestimmte Gegenden in Berlin-Neukölln müßten dann zu den zivilsten und urbansten Plätzen Deutschlands zählen.

Könnte es sein, daß die Zustände in den westdeutschen Städten auf die Menschen in den Neuen Ländern abschreckend wirken, daß sie diese um keinen Preis wollen? Ist es nicht sogar denkbar, daß die Homogenität, die natürlich um eine neue Leistungselite - egal, welcher Herkunft - zu ergänzen wäre, schon mittelfristig einen Standortvorteil darstellt? Solche Fragen stellt Kleger nicht. Er lobt statt dessen die Initiative "Tolerantes Brandenburg", die "Rechtsstaat und Bürgergesellschaft, Repression und Prävention bei der Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Rechtsextremismus" bündele. Er möchte Potsdam und Brandenburg endlich auf jenes Westniveau bringen, das er selber personifiziert, damit ein anderes nicht einmal mehr denkbar und er selber unangefochten ist - soviel professoralen Größenwahn, wann hatten wir den zuletzt?

So albern solche Aktionen auch scheinen - sie bleiben nicht folgenlos, weil sie ihre Multiplikatoren finden, die eine Atmosphäre der Erpressung aufbauen. Die Potsdamer Neuesten Nachrichten forderten unter der Überschrift "Druck schaffen", die "öffentliche Diskussion" um das Edikt müsse genutzt werden, "um auch unbequemen Forderungen politischen Nachdruck zu verleihen", zum Beispiel um die stadtnahe Unterbringung von Asylanten durchzusetzen. Potsdamer Schulen vermelden Toleranzaktionen und -diskussionen, der Ringerclub Germania Potsdam veranstaltete in den Osterferien mit Unterstützung der Flick-Stiftung ein Ringercamp gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz.

Auf der extra eingerichteten Internetplattform werden Erziehungsmaßnahmen zugunsten von "Offenheit und Neugierde der Kinder für 'Andere', fürs 'Unbekannte'" verlangt. "Sponsoren wie Privatpersonen, Geschäfte oder öffentliche Einrichtungen können z. B. dunkelhäutige Püppchen an Potsdamer Kindertagesstätten sponsern. Diese Aktivitäten werden z. B. im Internet aufgelistet, womit für den Unterstützer ein werbewirksamer Effekt entsteht." Das zielt auf die Köpfe und Hirne vor allem von jungen Menschen. Ex-DDR-Bürger dürfen sich an Zeiten erinnert fühlen, in denen mittels permanenter Planerfüllungs- und Gegenplankampagnen, FDJ-Aufgeboten, Gedenktagen, Selbstverpflichtungen, Versammlungen, Demonstrationen  und Spruchbänder eine virtuelle gesellschaftliche Dynamik erzeugt wurde, an die zwar niemand glaubte, die aber einen Anpassungsdruck erzeugte. Auch jetzt äußern die ablehnenden Stimmen sich vorzugsweise im Schutze der Anonymität.

Der Kampf um ein "Tolerantes Potsdam" fügt sich ein in die landesweite Initiative "Tolerantes Brandenburg". Dazu gehört die von der Bundesregierung unterstützte Aktion "Orte der Vielfalt". Ziel soll es laut deren Internetauftritt sein, "möglichst viele Kommunen und Akteure der Zivilgesellschaft in ganz Deutschland dafür zu gewinnen, sich vor Ort für Vielfalt und gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu engagieren".

Dazu sollen "Kommunen und Sicherheitsbehörden sich gegenseitig informieren und systematisch zusammenarbeiten. Die Verfassungsschutzbehörde des Landes Brandenburg unterstützt bereits seit Jahren die Kommunen und Institutionen des Landes mit Expertenwissen zum politischen Extremismus. Regelmäßige Informationsveranstaltungen und die Zusammenarbeit bei aktuellen Ereignissen - beispielsweise bei rechtsextremistischen Demonstrationen - gehören zum Angebot der Verfassungsschutzbehörde." Dann folgt ein direkter Link zum Inlandsgeheimdienst - als der höchsten Instanz der Neuen Brandenburger Toleranz?

Weitere Information zu dem Thema im Internet unter www.potsdamer-toleranzedikt.de

Foto: Häuser im Holländischen Viertel, mit denen im 18. Jahrhundert Einwanderer aus den Niederlanden nach Potsdam gelockt werden sollten: Rückgriff auf die preußische Geschichte

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