© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

Keine Kraft zum Hintersinn
Unwürdige Lektüren: Karl May, Comics, Ikea-Katalog
Thorsten Thaler

Wer Bücher schreibt, liest auch viel, klar, eine schreibende Existenz wird immer auch eine lesende sein. Aber was lesen Autoren wirklich im stillen Kämmerlein, wenn sie nicht gerade im öffentlichen Raum nach ihrem Lieblingsbuch gefragt werden und Titel nennen, die zum Kanon der hohen Weltliteratur gehören: Musils "Der Mann ohne Eigenschaften", Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", Goethes "Faust", Joyces "Ulysses", Homers "Odyssee" oder die Bibel?

In der österreichischen Literaturzeitschrift Volltext, die sechsmal im Jahr erscheint, gibt es eine Rubrik namens "Unwürdige Lektüren". Hier dürfen sich Schriftsteller und Autoren freimütig zu ihren heimlichen Lesegewohnheiten bekennen. Die gewährten Einblicke sind überraschend, amüsant, oftmals abseitig. Die Bandbreite reicht von Karl May über "Prinz Eisenherz"-Comics und italienische fotoromanzi, Horrorgeschichten und Science-Fiction-Hefte  bis zum Ikea-Katalog. Und zwischendurch erzählt ein Schriftsteller auch schon mal, wie er seine Schreibblockaden mit Hilfe der Lektüre von bunten Regenbogenblättern wie Goldenes Blatt oder Neue Post zu überwinden sucht.

"Unwürdige" Lektüren? Für den jungen Österreicher Thomas Glavinic, Jahrgang 1972, einen der verheißungsvollsten deutschsprachigen Literaten ("Die Arbeit der Nacht", "Das bin doch ich"), gibt es solche Lektüren nicht. Er besitzt eine "nahezu vollständige" Sammlung von "Clever & Smart"-Comics und versetzt sich "etwa einmal im Monat" in die Welt von Old Shatterhand und Winnetou.  Der Konsum des Trivialen sei "in gewissen Situationen notwendig. Vermutlich gibt es niemanden, der nicht manchmal am Abend so müde ist, daß er keine Kraft mehr hat für Komplexität und Hintersinn. Manchmal ist nur eines gefragt: Klarheit. Einfachheit. Unaufgeregtes Betrachten des Vorhersehbaren", schreibt Glavinic im Vorwort der soeben erschienenen Anthologie "Unwürdige Lektüren - Was Autoren heimlich lesen".

Der Sammelband enthält 29 Beiträge, die zuvor alle in Volltext erschienen sind, darunter Bekenntnisse von Daniel Kehlmann, Julia Franck, Zoe Jenny, Alex Capus, Paul Ingendaay, Georg Klein, Annette Pehnt, Silke Scheuermann. Sie alle bezeugen mit ihren Lesegewohnheiten ein tiefes Bedürfnis nach Unterhaltung und Zerstreuung. Zugleich implizieren die Beiträge, daß nur eines schlimmer ist, als vermeintlich Unwürdiges zu lesen: gar nicht zu lesen.

Thomas Keul (Hrsg.): Unwürdige Lektüren. Was Autoren heimlich lesen. Mit einem Vorwort von Thomas Glavinic, Schirmer/Graf Verlag, München 2008, gebunden, 236 Seiten, 17,80 Euro

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