© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

Gefühl ist gut, Charisma besser
Auch Wunder gehen vorüber: Am Samstag wäre Herbert von Karajan hundert geworden
Andreas Strittmatter

Im September 1968 versammelten sich die Berliner Philharmoniker mit ihrem Chefdirigenten Herbert von Karajan in der Berliner Jesus-Christus-Kirche zu Aufnahmesitzungen. Auf dem Programm standen das Cello-Konzert von Dvořák und Tschaikowskys "Rokoko-Variationen", die Solopartien übernahm der russische Cellist Mstislav Rostropowitsch. Mit dem Dvořák-Konzert gastierte der regimekritische Gast - er verließ 1974 die Sowjetunion und wurde vier Jahre später ausgebürgert - auch auf dem Konzertpodium. Während Studenten in jenen Tagen nicht nur ein vermeintlich vermaterialisiertes Kulturverständnis und eine "ästhetische Kaschierung des brutalen Egoismus" (Herbert Marcuse) anprangerten, war Rostropowitschs Engagement mitten im Kalten Krieg, mitten in West-Berlin und inmitten des Vorzeigeorchesters der Bundesrepublik zumindest für die Musikwelt ein elektrisierendes Ereignis.

Elektrisierend ist auch das Ergebnis, das bis heute im Plattenladen zu haben ist: Die Leistung des glänzenden Solisten ist in einem nicht minder glanzvollen Rahmen geborgen. Wer in die Berliner Philharmoniker hineinhorcht und sich vom vitalen Schwung Karajans mitreißen läßt, der ahnt trotz Tonkonserve, was 1938 den Musikkritiker Edwin von der Nüll nach Karajans "Tristan"-Dirigat an der Berliner Staatsoper bewogen haben mag, das "Wunder Karajan" auszurufen. Am Samstag wäre Karajan, der am 5. April 1908 in Salzburg zur Welt kam und 1989 verstarb, hundert Jahre alt geworden. Auch Wunder gehen vorüber.

Zurück zur Aufnahmesitzung von 1968: Rostropowitsch, Karajan und die Berliner geben die "Vorstellung einer Kultur ohne Unterdrückung", freilich nicht im versponnenen Sinn Marcuses, sondern ziemlich handfest: Rostropowitsch war von Musikern und nicht von KGB-Agenten umgeben. Und daß auch Karajan und die Philharmoniker einmal mehr zur Höchstform aufliefen, war nicht zuletzt das Ergebnis jener Taktik, mit der Karajan Spitzenorchester wie die Berliner oder die Wiener Philharmoniker behandelte. Er machte deutlich, was er wollte, malträtierte die Musiker aber nicht mit Kleinigkeiten. In der Provinz, über die sich Karajan als Kapellmeister in Ulm und Generalmusikdirektor in Aachen emporgearbeitet hatte, funktioniert dieses Rezept noch nicht. Daher verzichtete Karajan ab Ende der 1940er-Jahre darauf, mit zweitklassigen Orchestern zu arbeiten, selbst wenn hohe Honorare geboten wurden.

Der Perfektionist, zu dem sich Karajan entwickelte, brauchte Perfektionisten um sich herum. Mit dem Perfektionismus war das allerdings so eine Sache: Karajan war immer mehr auf einen überwältigenden Gesamteindruck aus, Details interessierten ihn nur bedingt, selbst bei Aufnahmen. Anders ist es zum Beispiel kaum zu erklären, warum bei seiner ersten Digitaleinspielung auf dem Höhepunkt der "Alpensymphonie" von Richard Strauss das Blech böse und deutlich patzt.

Routinefehler der Musiker klopfte Karajan bei Proben in der Regel nicht ab, weil er darauf vertraute, es mit Spitzenkräften zu tun zu haben, denen Ausrutscher nur einmal passieren dürften. Orchestermusiker, das geht bis heute aus Erinnerungen der Mitglieder jener Ensembles hervor, mit denen Karajan längerfristig arbeitete, waren keine Taktstocksklaven, sondern Künstler, denen auch der spätere Weltstar Karajan unbedingtes Zutrauen entgegenbrachte und Verantwortung für das Gelingen seiner Absichten auferlegte. Beides spornt an.

Der Dirigent Michael Gielen erinnert sich in seiner Autobiographie "Unbedingt Musik" an seine Zeit als Kapellmeister an der Wiener Oper während der Direktion Karajans. Nach einem vom Chef des Hauses großartig dirigierten "Otello" machte Gielen mit Komplimenten seine Aufwartung, doch Karajan habe nur abgewinkt und - "ganz Bescheidenheit", so Gielen - gesagt: "Es ist ein sehr gutes Orchester." Mitglieder des vom EMI-Produzenten Walter Legge gegründeten Philharmonia Orchestra, mit dem Karajan nach dem Zweiten Weltkrieg eng zusammen arbeitete, beschrieben Karajan als einen Dirigenten, der den Musikern das Gefühl gab, einer der ihren zu sein.

Gefühl ist gut, Charisma besser. Karajan gestand einmal ein, daß man jungen Dirigenten vieles beibringen könne: Technik und Stil etwa - nicht aber "die Kraft der Übertragung". Auch hier ist eine Erinnerung Gielens an eine erste Probe für einen neuen "Tristan" an der Mailänder Scala bezeichnend. Karajan habe mit dem Vorspiel zum dritten Akt begonnen, nach kurzer Zeit jedoch abgebrochen und etwas gemurmelt, "etwas, was, ich schwöre, niemand verstehen konnte". Doch das Orchester sei danach wie verwandelt gewesen, und Gielen stellt fest: "Diese Magie über die Musiker, daß man bekannte Stellen ganz neu hörte, war seine Genialität."

Gielen meinte nicht zuletzt den Klang, auf den Karajan höchsten Wert legte. Gefragt, wie er als Perfektionist seine Arbeit beim Ulmer Provinzorchester habe durchstehen können, gab Karajan an, er habe auswendig und mit geschlossenen Augen dirigiert, um sich inwendig auf jenen Klang zu konzentrieren, der ihm abseits der kruden Wirklichkeit vorschwebte. Auch später dirigierte Karajan seine Konzerte sozusagen im Blindflug. In der Oper hielt er die Augen offen. Hier wie da entwickelte sich Karajan aber zu einem Klangfetischisten.

Karajans Klang verströmt sich mit Ebenmaß. Ecken und Kanten glättete der Dirigent zunehmend - ein Weg, dem nicht alle Musikfreunde zu folgen gewillt waren: Für viele war Karajan ein Schamane klanglicher Verführung, für nicht wenige aber auch ein kläglicher Verführer und Scharlatan. Vor allem die ab 1970 entstandenen Aufnahmen gelten oft als zu glatt, zu langweilig, zu nichtssagend, zu oberflächlich. Die Anwürfe bestehen keineswegs zu Unrecht, zumal Karajan auch eine mediale Macht entfaltete und die Klassikindustrie in Sachen Bild und Ton fest genug in der Hand hatte, daß diese ihm willfährig fast jeden Wunsch erfüllte - eine Flut von Karajan-Platten war die Folge, nicht jede davon löst das Versprechen des berühmten Namens ein.

Im Privatleben hielt sich Karajan - der sich mit wachsendem Erfolg als lebenden Mythos inszenierte - undurchschaubar. Gielen berichtet von einer Art Verhörszene in Karajans Büro in der Wiener Oper. Es ging um die Wahl richtiger Tempi in Verdis "Maskenball". Kapellmeister Gielen dirigierte eine von Dimitri Mitropoulos einstudierte Inszenierung und hielt sich an die Vorgaben des berühmten Dirigenten. Karajan hatte daran etwas auszusetzen: "Er saß im Dunkeln, die Schreibtischlampe auf mich gerichtet, ich stand."

Vieles hat Karajan im dunkeln gelassen, wo es bis heute geblieben ist: nähere Umstände etwa seines ersten Beitritts in die NSDAP (1933 bereits in Österreich, 1935 trat er in Aachen ein zweites Mal bei) oder auch den Umstand, daß der Österreicher Karajan 1926 bei seiner Einschreibung an der Wiener Universität seine Volkszugehörigkeit mit "deutsch-arisch" angab.

Schwer einzuschätzen waren auch sein Verhalten, seine Marotten und Launen, was zum Beispiel dafür sorgte, daß Karajan von einer Mezzosopranistin wie Christa Ludwig bis heute innig verehrt wird, während ihm die Wagner-Heroine Birgit Nilsson mit herzlicher Abneigung begegnete - Beispiele, wie Karajan auch sein direktes Arbeitsumfeld in Freund und Feind spaltete.

Auch die Entwicklung vom Einzelgänger, der in Ulm und Aachen gesellschaftliche Anlässe nach Möglichkeit mied, zum Jet-set-Dirigenten an der Seite des französischen Dior-Modells und heutigen Karajan-Witwe (Nummer drei) Eliette Mouret heizte zumindest jene Gerüchteküche an, die Teile das Salzburger Festspielpublikums (auch hier war Karajan sehr aktiv) mindestens ebenso faszinierte wie eine Verdi-Oper mit Karajan. Die Zeit geht darüber hinweg und hinterläßt Wesentliches: großartige Einspielungen aus Oper, Konzert und Symphonik, die  an Bedeutung nichts einbüßen werden, solange Kultur zählt.

Das Kulturradio WDR 3 widmet Herbert von Karajan am 5. April von 12 bis 24 Uhr ein zwölfstündiges Sonderprogramm.

Foto: Herbert von Karajan (1908-1989): Seine Konzerte dirigierte er sozusagen im Blindflug

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