© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

Die Illusion der Gleichheit
Erziehung und Bildung: Das staatliche Schulsystem in Deutschland befindet sich im rapiden Verfall
Karlheinz Weissmann

Zu den Mißlichkeiten der Gegenwart gehört das Fehlen von Diskussion. Gemeint sind Diskussionen, die den Namen verdienen, gemeint ist nicht das mediale Grundrauschen, sondern die Auseinandersetzung zwischen hinreichend klaren Alternativen, geführt mit der gebotenen Kompetenz, aber auch mit der gebotenen Schärfe. Talkshows im Fernsehen kann man nicht als Ersatz betrachten, so wenig wie die öffentlichen Podien, bei denen schon die Entscheidung über die Teilnehmer eine Entscheidung über den Ausgang der Debatte bedeutet: Wer eingeladen wird, vertritt sicher keine Position, die dem breiten Konsens gefährlich werden kann.

Der beschriebene Übelstand ist auch an dem seit Jahren dauernden Gejammer über das deutsche Bildungswesen zu beobachten. Nicht daß es an Kritikern von Gesamtschulen, Krippenerziehung, Bolognaprozeß und Pisa, an Befürwortern des Gymnasiums, des Kanons oder der Disziplin fehlen würde, aber ihre Vorstöße wirken eigenartig gedämpft, bedingt durch tausenderlei Rücksichtnahmen auf Verbandszugehörigkeit, Parteiloyalität oder die Angst vor den Regeln politischer Korrektheit.

Deshalb hat auch alles Gerede die negative Entwicklung nicht aufgehalten, und in dem Maß, in dem sich der Zustand von Schulen und Hochschulen als krisenhaft erweist, wirkt die Mehrheit desorientiert, die ihre Auffassungen gewöhnlich nach denen der politischen oder diskutierenden Klasse richtet.

Ihr bleibt also nur, sich einzurichten oder auszuweichen. Das Einrichten führt vor allem zu Versuchen, den Verfall des Systems auszunutzen. Als Paradebeispiel dafür kann dienen, was in vielen Bundesländern als "Freigabe des Elternwillens" bezeichnet wird und jedem ermöglicht, für seinen Nachwuchs eine beliebige weiterführende Schulform auszusuchen. Das hat nicht nur zur Aufblähung der Gymnasien geführt - fallweise mit Übergangsquoten von bis zu siebzig Prozent -, sondern auch dahin, daß diese immer weniger in der Lage sind, die notwendige Auslese zu betreiben. Fällt der Begriff - oder beliebter noch, weil assoziationsreicher: "Selektion" -, macht sich in Kollegien, Verwaltung und politischer Spitze Panik breit und man versichert, daß selbstverständlich alle Schüler individuell gefördert würden; nur bleibt offen, zu welchem Ziel.

So gibt man all denen ein probates Druckmittel in die Hand, die wissen könnten, daß ihre Kinder den Forderungen, die notwendigerweise an sie herangetragen werden, nicht gewachsen sind. Und man macht all denen die Arbeit schwer oder unmöglich, die immer noch bemüht sind, die zentralen pädagogischen Aufgaben der weiterführenden Schulen zu erfüllen.

Die seit Jahren unregelmäßig aufflammende Propaganda für "Elite" und "Hochbegabte" darf an dieser Einsicht nicht irre machen: Die heilige Kuh des bundesdeutschen Bildungswesens bleibt die Egalität; das hat seine Ursachen im massiven Einfluß der "Ideen von '68", in fehlgeleiteten Erwartungen von Eltern, in den Bedürfnissen der Sozialbürokratie, aber auch in der Vorstellung der Politiker aller Parteien, die überzeugt sind, daß die Masse am besten zu steuern ist, wenn man ihr die Illusion der Gleichheit läßt.

Naturgemäß wird jeder die Entwicklung mit Unbehagen sehen, der vom breiten "Bündnis der Unbegnadeten" (Carl Schmitt) ausgeschlossen ist. Also jener Teil der Eltern, der aus Verantwortungsgefühl und aufgrund eines nicht korrumpierten Begriffs von Gerechtigkeit eine kind- und begabungsangemessene Bildung erstrebt.

Da sich diese Gruppe immer weniger Gehör verschaffen kann, wählt sie die zweite beschriebene Alternative: Ausweichen. Das fängt mit den zeitraubenden Recherchen über den geeigneten Kindergarten an, führt über die Wahl des Wohnsitzes nach Maßgabe sozialer und ethnischer Zusammensetzung des Schulbezirks bis zur Prüfung der einzelnen Haupt-, Real- oder Oberschulen auf ihre verbliebene Funktionstüchtigkeit. In einer wachsenden Zahl von Fällen geht der Versuch des Ausweichens sogar noch weiter und mündet in Flucht: nämlich aus dem öffentlichen Schulwesen. Angeblich sollen jeden Tag zehn Anträge auf Gründung einer Privatschule gestellt werden.

Das ist für den deutschen Fall deshalb relativ neu, weil Privatschulen hierzulande immer einer restriktiven Gesetzgebung unterworfen waren. Es gab zwar Sonderformen - etwa die konfessionellen Schulen, Internate für die Oberschicht oder die in einer historischen Ausnahmesituation gegründeten Waldorfschulen -, aber im allgemeinen unterschied sich Deutschland von seinen europäischen Nachbarn und den USA durch das Prinzip der Staatlichkeit des Schulwesens. Das hatte nicht nur mit der starken etatistischen Tradition - in Preußen ebenso wie im Süden des Reiches - zu tun, sondern auch mit den großen pädagogischen Entwürfen des 19. Jahrhunderts, die "Nationalerziehung" und "Volksbildung" als Einheit betrachteten. Weit entfernt vom Ideal schematischer Gleichheit diente Volksbildung dazu, daß alle ein relativ hohes Maß an Grundkenntnissen und -fertigkeiten erhielten.

Die Vorbildlichkeit dieses Systems war bis in die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unbestritten. Seither hat man mittels ideologischer Eingriffe und hypertropher "Bildungsplanung" das Gesamtkonzept zerstört und uns allmählich jenen Ländern ähnlich gemacht, in denen das öffentliche Desinteresse an der Volksbildung und der Egoismus der führenden Klassen ein System schufen, das den Besuch einer guten Schule vom Vermögen der Eltern oder der Gunst einer Stipendienvergabe abhängig macht.

Natürlich gibt es die, die auch diesen Prozeß als Teil der überfälligen Modernisierung und Verwestlichung betrachten, als notwendigen Akt des Aufholens, wohlweislich übersehend, daß Deutschland solche Anpassung nie nötig hatte, da sein eigener Weg der bessere war.

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