© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/08 28. März 2008

Neue Ordnung in der Entgrenztheit
Der Medienwissenschaftler Frank Böckelmann über Raumvisionen in einer zunehmend vernetzten Welt
Thorsten Hinz

Die Essenz dieses Buches läßt sich frei nach Goethe so zusammenfassen: Nation oder Nationalstaat will heute nicht mehr viel sagen. Die Welt ist der Ort, an den wir gestellt sind. Aber damit sie dem Europäer eine Heimat sein kann, politisch und geistig, muß er sich bescheiden und in ihr auf neue Weise ortsfest machen.

Die "Erkundungen im entgrenzten Dasein" des Medienwissenschaftlers Frank Böckelmann sind in sechs Kapitel untergliedert, in denen über scheinbar so disparate Themen sinniert wird wie den Multifunktionskörper, die urbane Katastrophe, über Sex im Zeitalter des Internet und die Menschenrechte, das Ende des US-Hegemons, die Wiederkehr der Großräume und ganz zum Schluß über die Chance Europas, seinen Bestand durch Gegenwehr zu sichern. Wie sich im Verlauf der Lektüre herausstellt, sind sie verbunden durch eine stringente Logik, die Carl Schmitt im Essay "Land und Meer" entwickelt hat, der von der globalen "Raumrevolution" handelt.

Diese setzte im 15. Jahrhundert mit der europäischen Seefahrt über die Weltmeere und der Erschließung und Eroberung neuer Weltgegenden ein. Neben den Vorstellungen von Entfernungen und Größenverhältnissen verändert die Raumrevolution die Struktur des Raumbegriffs selbst und führt zum "umfassenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel". Es "entstehen neue Maßstäbe und Dimensionen der politisch-geschichtlichen Aktivität, neue Wissenschaften, neue Ordnungen, neues Leben neuer oder wiedergeborener Völker" (C. S.). Im 20. Jahrhundert fand sie durch den Luftverkehr ihre Fortsetzung, der die Entfernung zwischen den Kontinenten und den äußersten Punkten Europas auf Stunden schrumpfen ließ. Die Raketen- und Raumfahrttechnik ermöglicht es heute, jeden Ort der Welt zu überwachen und in Minutenschnelle technisch zu erreichen und gegebenenfalls zu zerstören. Böckelmann schreibt - unter Berufung auf den Medienphilosophen Paul Virilio - die Entwicklung unter den Bedingungen der neuen Medien und Kommunikationsverhältnisse fort. Neue Techniken, das Internet bewirken, daß heute jeder potentiell an jedem Punkt der Welt erreichbar ist. Diese nochmalige Veränderung der Raumstruktur ergreift den Menschen selber, der sogar sein Ego physisch und psychisch für den globalen Wettbewerb zuzurichten sucht, mit dem Ziel eines "selbstlosen Selbst".

In dieser Welt werden die Orte sich immer ähnlicher. Um wirtschaftlich bestehen zu können, ist jeder Marktflecken darauf angewiesen, mit der Welt vernetzt zu sein, Datenströme auszusenden und zu empfangen, einen Flughafen oder Autobahnanschluß in der Nähe zu haben. Gefragt ist ein globaler Wiedererkennungswert. Das heißt, die überall üblichen Waren, Marken, Dienstleistungen müssen erreich- und abrufbar sein, von Service-Einrichtungen wie Bankautomaten bis hin zu Restaurantketten. Der Genius loci schwindet, die Orte werden zu Filialen einer Weltgesellschaft. Historische Städte sagen nichts mehr aus über was, was hinter den Mauern getan und gedacht wird, sie transportieren keine lebendige Eigenart oder Geschichtlichkeit mehr, ihre Bedeutung schrumpft zum touristischen Reiz. Ein aktuelles Beispiel dieser Ortlosigkeit bietet der neue Werbespruch: "Be Berlin" (Sei Berlin). Eine nicht ganz unbedeutende Stadt, die aus den bekannten Gründen ökonomisch im Abseits liegt, buhlt um Sympathie und Zuwendung, indem sie sich als reine Zuschreibungsfläche anbietet.

So unvermeidlich die Entwertung traditioneller - einschließlich nationalstaatlicher - Strukturen auch ist, die emphatische Begleitmusik dazu verrät Naivität. Die Hoffnung, die Entwicklung führe zu einer neuen Weltordnung, in der die Politik als Kräftespiel konkurrierender Mächte überwunden und durch ein allgemein akzeptiertes Recht ersetzt würde, das auf einem ursprünglich europäischen, jetzt universalistischen Wertekanon beruhe, war eine Illusion (die übrigens schon 1992 in Panajotis Kondylis' "Planetarischer Politik nach dem Kalten Krieg" gründlich demontiert wurde). Die Annahme, daß die globale Vernetzung eine Angleichung kultureller, rechtlicher und politischer Standards nach sich ziehe, war eine "fixe Idee" der "Erben des Abendlandes". Die Ausgangspositionen und Interessen sind zu unterschiedlich. Die "totale Kommunikation" ist lediglich eine Oberfläche, unter der ein "undurchdringliches Schweigen" waltet. Die gebildeten, mit allen technischen und kulturellen Finessen des Westens vertrauten Selbstmordattentäter, welche die Metropolen des Westens heimgesucht haben, lieferten schauerliche Belege dafür, daß die gewaltsame Nähe statt zu Harmonie zu Friktionen führt.

Die Vernetzung der Welt macht diese keineswegs sicherer, sondern verwundbarer. Ein Akt asymmetrischer Kriegführung in einem fernen Weltwinkel wirkt durch seine rasche mediale Verbreitung als Drohung an alle und bringt weltweit Ökonomien und Staaten in Turbulenzen. Um solchen Akten vorzubeugen, werden Verkehrs- und Datenströme immer stärker kontrolliert. Doch wer übt die Kontrolle effektiv aus? Damit kehrt die Frage nach politischer und militärischer Macht zurück, die durch eine universalistische Verrechtlichung neutralisiert werden sollte, und rücken die USA ins Blickfeld, das einzige Land, das machtpolitisch bisher von der Globalisierung profitiert hat. Da sie geschichtslos in ihre staatliche Existenz eintraten, als die pure Verkörperung des liberal-kapitalistischen Systems, das die Raumrevolution im 19. und 20. Jahrhundert forciert hat, transportiert der universalistische Anspruch dieses Systems zugleich ein machtstaatliches Interesse der USA.

Der aktuelle Zustand Europas entspricht voll den amerikanischen Erwartungen. Die nationalstaatlichen Kompetenzen werden durch die Europäische Union zugunsten eines einheitlichen Wirtschaftsraumes abgeräumt, ohne daß parallel dazu ein gemeinsamer politischer Eigenwille formuliert wird. Diese Delegierung politischer Macht an die transnationale Ökonomie findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem der Kapitalismus als Produktionsweise - Herstellung, Handel und Verkauf von Produktionsgütern mit dem Ziel des Profits - durch die irrationale Finanzspekulation abgelöst wird.

Das gleichzeitige Beharren mancher europäischer Länder auf ihrer Souveränität ist schimärisch und - im globalen Maßstab - machtpolitisch folgenlos, weil diese Souveränität nur noch eine Eulenspiegelei unter dem militärischen Schutzschirm der USA ist. Echte Souveränität ließe sich angesichts globaler Machtverhältnisse - gegenwärtiger und erst recht künftiger - erst wieder in einen europäischen Rahmen herstellen. Die Voraussetzung wäre ein politischer Wille zum physischen Selbsterhalt, aus dem politische Entscheidungskraft erwächst. Der aber ist nirgendwo sichtbar.

Die Europäer haben sich angewöhnt, Europa als einen ortlosen Kontinent zu betrachten, dessen Geist die Welt erobert und missioniert hat und deswegen keine ausdrückliche Verankerung im Raum mehr braucht. In "Land und Meer" wird an den Roman "Tancred" des jungen Benjamin Disraeli erinnert, der darin vorschlug, die Königin solle mit ihrem Hof und der ganzen führenden Schicht nach Indien umziehen, wo sie große Einkünfte und eine schlagkräftige Armee erwarteten. Doch Großbritannien war damals das mächtigste Land der Erde, während Europa sich heute der Außenwelt militärisch und politisch als gallertartige Masse präsentiert. Botschaften aus der Ort- und Machtlosigkeit aber werden nicht entgegengenommen oder gegen den Absender umgedeutet.

Böckelmann führt starke Gründe für das baldige Ende der unilateralen Globalisierung und die Neuaufteilung der Welt in ein Pluriversum von Großräumen auf. Wird Europa einen eigenen Großraum bilden? Dazu müßte es erst einmal aufhören, auf seine universalistische Mission zu vertrauen, und statt dessen die Differenz zu anderen und die Machtpolitik wiederentdecken. Bei dem desolaten Zustand seiner Funktionseliten erscheint diese Erwartung abwegig. Ob es dazu kommt, hängt also nicht mehr von ihm ab, sondern davon, was die Anrainer, insbesondere die islamische Welt, mit ihm vorhaben. Mag sein, daß Europa die Pressionen irgendwann so unerträglich werden, daß es sich seiner Traditionen, Kenntnisse und alten Kraft besinnt und eine politische Entscheidung wagt. Garantieren kann das keiner.

Eine faszinierende Lektüre, die zum Neu- und Weiterdenken zwingt!

Frank Böckelmann: Die Welt als Ort. Erkundungen im entgrenzten Dasein. Karolinger Verlag, Wien 2007, gebunden, 312 Seiten, 24 Euro

Foto: Verwechselbares Flair auf dem Flughafen in Bangkok: Orte werden zu Filialen einer Weltgesellschaft

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