© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/08 28. März 2008

Ende der Heldenzeit
Thomas Mann in Zürich
Elmar Orth

Das vier Kontinente umspannende Imperium der Thomas-Mann-"Gedenkorte" führt im deutschsprachigen Raum von Zürich bis Sylt, auf deutschem Kulturboden sogar bis ins ostpreußische Rauschen und bis auf die Kurische Nehrung nach Nidden.Zählt man die Horte von Büchern und Briefen des Zauberers hinzu, die "Privatsammlungen", die gut betuchte TM-Enthusiasten anlegten, ließe sich fast auf jeder Bahnstation haltmachen, um die Aura des "Großschriftstellers" (Robert Musil) einzusaugen.

Noch weit vor dem Lübecker Buddenbrookhaus ist jedoch das Züricher Thomas-Mann-Archiv (TMA) als Hauptsitz dieses literarischen Weltunternehmens anzusehen, das von dem hanseatischen Kaufmannssohn vor gut hundert Jahren gegründet wurde. Gegen dessen ökonomischen Erfolg nimmt sich der Getreidehandel seiner Ahnen wie Hökerei aus.

Zürich, wo Thomas Mann nach der Rückkehr aus dem US-Exil wieder in "gewohntem Style" residierte und wo er im August 1955 starb, schien sich bald nach seinem Tod als der ideale Ort für Sammlung und Aufbereitung des Nachlasses anzubieten. Trotzdem waren die Anfänge im Gründungsjahr 1956 geprägt von Schweizer Geiz, Personalquerelen und dem Stilisierungswillen der Familie, Witwe Katia und das "liebe Eri-Kind", Tochter Erika Mann, hierbei allen voran. Wäre nicht die pietätvolle Erinnerung an den Meister, so stöhnte einer der Gründungsväter schon 1958, hätte er "das Ganze wohl schon hingeschmissen".

Diese und andere Interna gibt der derzeitige Leiter des Archivs, Thomas Sprecher, in seiner umfangreichen Dokumentation preis, die auf fünfzig Jahre Archivgeschichte zurückblickt. Zugleich belegt Sprechers akkurate Chronik aber, daß die Heldenzeit des TMA, als sich zwischen 1956 und 1990 die Forschung aus den Züricher Beständen speiste, zu Ende geht. Die laufende "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe" wird zwar noch von einer Archivmitarbeiterin unterstützt, die auf einer 1998 eigens dafür eingerichteten Stelle sitzt, und die Sammlungen sollen auch das Rückgrat einer neuen Briefausgabe werden, die endlich "Eris" auf "Diskretion" bedachte Briefbände aus den 1960er Jahren ersetzt, aber deren Inhalt ist seit dem Regestenwerk von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer bekannt. Züricher "Impulse der Forschung" dürften also immer schwächer ausfallen, die Musealisierung Thomas Manns im schönen Bodmer-Haus bald die Oberhand gewinnen.

Thomas Sprecher (Hrsg.): Im Geiste der Genauigkeit. 50 Jahre Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich 1956-2006. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2006, 576 Seiten, gebunden, Abbildungen, 74 Euro

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