© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/08 28. März 2008

Wüstensöhne und Waisenkinder
Weltgeschichte als Gefühlskino: Zum hundertsten Geburtstag des englischen Filmregisseurs David Lean
Werner Olles

Wenn jemand die Welt des Films und des Kinos von der Pike auf kennengelernt hat, dann war dies der britische Filmregisseur David Lean. Am 25. März 1908 in Croydon geboren, bekam er nach seiner Schulzeit zunächst eine Stellung als einfacher Filmklappen-Assistent. Doch mit Zähigkeit, Fleiß und Engagement arbeitete sich der junge Mann in der Branche nach oben, wurde Wochenschau-Redakteur, Kameramann und schließlich Schnittmeister und Regieassistent.

Als Noel Coward auf ihn aufmerksam wurde und ihm die Co-Regie des Kriegsfilms "In Which We Serve" (1942) anbot, war dies der Beginn einer langen und für beide Künstler fruchtbaren Zusammenarbeit. Lean inszenierte insgesamt vier Bühnenstücke seines Freundes, darunter die geistvolle, überaus witzige und in Regie und Darstellung herausragende Komödie "Blithe Spirit" ("Geisterkomödie", 1944), in der ein zynischer Schriftsteller (Rex Harrison) den Geist seiner ersten Frau beschwört, die durch ihre nur ihm sichtbare Anwesenheit alle möglichen Verwirrungen schafft und schließlich die zweite Frau des Helden selbst ins Geisterdasein holt.

In den späten vierziger Jahren machte sich Lean vor allem mit seinen Verfilmungen von Charles-Dickens-Romanen einen Namen. In "Great Expectations" ("Geheimnisvolle Erbschaft", 1946) kommt ein als Waise ärmlich aufgewachsener Dorfjunge durch die Dankbarkeit eines reich gewordenen Ex-Sträflings zu Wohlstand und wird ein satter Spießer, bis heilsame Erschütterungen und die Liebe seinen Charakter läutern. Auch wenn der Regisseur die bezaubernde Poesie nicht ganz bis zum Schluß durchhielt, gehörte der literarisch anspruchsvolle Film zu Leans größten Werken und den besten Dickens-Verfilmungen überhaupt.

Mit "Oliver Twist" (1948) gelang Lean schließlich die Verfilmung eines Stücks Weltliteratur, das als moralkritischer Spiegel der viktorianischen Epoche berühmt wurde. Meisterhaft inszenierte er den Leidensweg eines dem Londoner Armenviertel entlaufenen Waisenjungen, der als Zehnjähriger in die Netze des Trödlers Fagin (Alec Guinness) und der von diesem organisierten Kindertaschendiebe gerät. Der Film ist eine kongeniale Adaption und beeindruckte die Zuschauer vor allem durch seine skurrilen, bis zur Verschrobenheit gesteigerten Charakterstudien.

Obschon Fagin im Dialog nicht als Jude bezeichnet wird, kam es wegen der Besorgnis antisemitischer Wirkung - "Eine Judenkarikatur wie aus dem Stürmer", schrieb eine Berliner Tageszeitung  - zu Schnitten in der deutschen Fassung und zu Protesten nach der Premiere in Berlin. Mit den Dickens-Filmen begann auch eine enge Zusammenarbeit zwischen Lean und Alec Guinness, der von nun an in fast allen seinen Filmen mitspielte.

Nach dem eher simplen Dreiecksdrama "The Passionate Friends" ("Die große Leidenschaft", 1949) aus dem Lean einen kleinen altmodischen Unterhaltungsfilm ohne Ambitionen machte, und der Familien- und Kleinstadtkomödie "Hobson's Decision" ("Herr im Haus bin ich", 1954) mit dem wunderbaren Charles Laughton, gelang ihm ein Jahr später mit "Summertime" "("Der Traum meines Lebens") ein atmosphärisch dichtes und einfühlsam inszeniertes Melodram.

In "Summertime" erfüllt sich die nicht mehr ganz junge, etwas gehemmte Amerikanerin Jane Hudson (Katherine Hepburn) einen langgehegten Wunsch und reist nach Venedig. Bei der Begegnung mit der heiteren Landschaft und Kultur des Mittelmeeres taut sie jedoch nach ein paar Tagen auf und verliebt sich schließlich in einen italienischen Antiquitätenhändler (Rossano Brazzi). Ihr Glück scheint vollkommen, da erfährt sie, daß er verheiratet ist. Sie verläßt Italien, traurig und doch gestärkt durch eine unverlierbare Erfahrung. Zwar schrammt der Film bisweilen hart an der Grenze zum Sentimentalen, fesselt jedoch durch Leans souverän ausbalancierte Regie und vor allem Katherine Hepburns Schauspielkunst.

Mit "The Bridge On The River Kwai" ("Die Brücke am Kwai", 1957) begann schließlich die Episode jener Leinwand-epen, denen Leans Kritiker vorwarfen, sie hätten vor allem Oberflächenglanz zu bieten, aber wenig dahinter. In der Tat hat er diesen Großproduktionen seit den fünfziger Jahren fast sein gesamtes Schaffen gewidmet, doch der Erfolg dieser Filme gab ihm Recht. "The Bridge On The River Kwai" erzählt von einer britischen Einheit, die in japanischer Kriegsgefangenschaft eine wichtige Brücke bauen soll, die am Ende von amerikanischen Agenten in die Luft gesprengt wird, und machte ihn endgültig zum Star-Regisseur. Und dies obwohl der Film wegen seiner ambivalenten Haltung zwischen Apotheose unbedingter militärischer Pflichterfüllung und ironischer Kritik an deren Absurdität und Sinnlosigkeit durchaus zwiespältig aufgenommen wurde.

In "Lawrence Of Arabia" (Lawrence von Arabien", 1962) erzählt Lean in epischer Breite die Geschichte des englischen Offiziers und Agenten T. E. Lawrence, der während des Ersten Weltkrieges den arabischen Aufstand gegen die türkischen Besatzer anzettelte und anführte. Überwältigend in der visuellen Bildkraft der Wüstenszenen und getragen von der großartigen Darstellung Peter O'Tooles in der Titelrolle und Alec Guinness' als Prinz Feisal wird die charismatische, aber gebrochene Führerpersönlichkeit des T. E. Lawrence erfahrbar, der mal in die Rolle des Erlösers, mal in die des blindwütigen Rächers schlüpft, unter seiner homosexuellen Neigung leidet, masochistische Anwandlungen hat und aus seiner Eitelkeit keinen Hehl macht. 1990 kam der Film in einer rekonstruierten und von Lean autorisierten 30 Minuten längeren Fassung noch einmal in ausgewählte Kinos und bewies, daß er von seiner optischen Grandiosität nichts eingebüßt hatte.

Großes Gefühlskino, wieder vor historischen Hintergrund, diesmal dem der russischen Oktoberrevolution, war "Doctor Zhivago" ("Doktor Schiwago", 1965), die wildbewegte Lebensgeschichte eines Arztes und Dichters, dessen dramatisches Schicksal sich in der Wirren der Revolution mit den politischen und militärischen Ereignissen seiner Zeit berührt. Anders als in dem Roman von Boris Pasternak steht jedoch in Leans Film die Beziehung des Helden (Omar Sharif) zu seiner Frau (Geraldine Chapline) und seine leidenschaftliche Liebe zu der schönen Lara (Julie Christie)  im Vordergrund. Publikumswirksam inszeniert schwelgt "Doctor Zhivago" in monumentalen Stimmungsbildern, die durch ihren langen Atem in der Abfolge lyrischer und dramatischer Momente und die einprägsame Musik von Maurice Jarre beeindrucken. Der Film wurde einer der größten Kassenerfolge der sechziger Jahre und prägte wie kaum ein anderes Kino-Opus die gängigen Vorstellungen vom "alten Rußland".

In den siebziger Jahren drehte Lean nur einen Film: "Ryan's  Daughter" ("Ryans Tochter", 1970), ein Melodram vor dem Hintergrund des irischen Freiheitskampfes von 1916, doch vermochte er trotz großartiger Landschaftsaufnahmen, handwerklicher Souveränität und brillanter Darsteller (Robert Mitchum, Sarah Miles, Trevor Howard, John Mills) nicht an den Erfolg von "Doctor Shivago" anzuknüpfen.

"A Passage To India" ("Reise nach Indien", 1984) wurde Leans letzter, wie gewohnt mit brillanter Routine inszenierter Film. Noch einmal gelangen dem Altmeister herausragende Figurenporträts und faszinierend exotische Bilder. Das erwachende Selbstbewußtsein des indischen Volkes gegenüber dem Gentleman-Rassismus der Briten, das der Roman von E. M. Forster durchaus thematisiert, ließ Lean jedoch zugunsten der intimen Liebesgeschichte zwischen einer jungen Engländerin und einem einheimischen Arzt bewußt in den Hintergrund treten.

Bis ins hohe Alter blieb der zweifache Oscar-Preisträger Sir David Lean aktiv. Am 16. April 1991 starb er mit 84 Jahren bei den Dreharbeiten zu der Verfilmung von Joseph Conrads "Nostromo" in London.

Die Filme "Lawrence von Arabien" und "Die Brücke am Kwai" sind auf DVD bei Sony Pictures Home Entertainment, München, erschienen. Internet: www.sphe.de

Foto: Omar Sharif und Peter O'Toole in dem Film "Lawrence von Arabien" (1962) von Regisseur David Lean: Überwältigend in der Bildkraft der Wüstenszenen

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