© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/08 21. März 2008

Pankraz,
Raoul Schrott und der assyrische Eunuch

Der Mann redet sich ja um Kopf und Kragen", dachte Pankraz entsetzt bei Lektüre des neuen Buches von Raoul Schrott, "Homers Heimat" (Carl Hanser Verlag, München, 410 Seiten 24,90 Euro). Schrott hat bekanntlich einen Ruf zu verlieren. Er ist ein in vielen Sätteln bewährter Schriftsteller und Gelehrter, wortmächtig und erfindungsreich, welterfahren und traditionsbewußt, furioser Übersetzer des Gilgamesch-Epos, Verfasser eines bezaubernden Bandes über "Die Musen". Hier nun vergreift er sich buchstäblich an Homer, und das schlägt ihm notwendigerweise zum Schlimmen aus. Welcher Teufel mag ihn da geritten haben?

Schrott behauptet nicht mehr und nicht weniger, als daß Homer, Schöpfer der Ilias und der Odyssee, sagenhafter Begründer des geistigen Abendlands, keineswegs jener blinde griechische Sänger und Rhapsode gewesen sei, als den ihn jedermann kennt, sondern in Wahrheit ein assyrischer Eunuch und Hofschreiber aus Karatepe in Kilikien (im Südosten der heutigen Türkei), der lediglich seine Kastriertheit kompensieren wollte, indem er vom waffenklirrenden Kampf um Troja Kunde gab. Selbst die liberalsten unter den Altphilologen und Archäologen können nur noch amüsiert oder ärgerlich mit dem Kopf schütteln.

Belegen kann Schrott - trotz der vielen Bilder in seinem Buch - keine einzige seiner Behauptungen, nicht einmal verständlich machen. Er hätte genausogut verkünden können, Moses sei ein ceylonesischer Perlentaucher gewesen oder Jesus eine japanische Geisha oder Adolf Hitler der Indianerhäuptling Winnetou. Was es in dem Buch gibt, sind lediglich vage Analogien, wie sie halt alle Erzählungen gemeinsam haben, vorgetragen allerdings mit dem wilden Eifer eines Sektenpredigers, der schon längst von jeder Realität abgehoben hat und überall nur noch "Beweise" für seine "Wahrheiten" sieht.

Immerhin, der Eklat, den Schrott mit seinem Buch ausgelöst hat, erinnert wieder einmal intensiv an die Tatsache, daß faktisch nichts über jene Gründerfigur bekannt ist, die wir mit dem Namen Homer belegen. Über andere Gründerfiguren, über Konfuzius, Buddha, Zarathustra, Moses, gibt es wenigstens Mythen, d.h. mündlich durch die Zeiten getragene oder sogar schriftlich fixierte Erzählungen, die einigermaßen glaubhaft mit historischen Inschriften, Namenstafeln, Sarkophagen usw. verbunden werden können. Im Falle Homers gibt es nichts dergleichen.

Keine Erzählung über Homer läßt sich durch bibliographische oder archäologische Funde untermauern. Hat er überhaupt je gelebt? Und wenn ja, wo und zu welcher Zeit? Hat er die Ilias und die Odyssee überhaupt geschrieben? Oder vielleicht nur eines der beiden Epen? Aber welches dann? Und welche der Fassungen, die wir von den Epen kennen, ist die authentische? Und wie steht es mit der historischen Faktizität der geschilderten Ereignisse? Gab es die Schlacht um Troja überhaupt? Und wo lag dieses Troja? Wir wissen nichts.

Und das Faszinierende: Auch die sogenannten "alten Griechen", wie sie im siebten Jahrhundert v. Chr. ans Licht traten, wußten nichts. Sie "hatten" zwar die Epen und den Namen Homer und verwendeten sie von Beginn an als heilige Anfangsdokumente und einigenden Zement ihrer Nationalgeschichte und als verläßliche Auskunftei über Götter und Heroen, aber wo sie diese Dokumente herhatten, das wußten sie nicht. Sie waren ihnen regelrecht "geschenkt". Das einzige, was man wirklich über sie wußte, war, daß sie in ionischer Sprache abgefaßt waren, mit gelegentlichen äolischen Dialektbeiklängen. Am Anfang stand das Wort, auch hier.

Homer hat die Epen, wie er selbst an ihrem Beginn mitteilt, nicht selbst verfaßt, sondern "die Muse" hat sie ihm Wort für Wort eingegeben. Die Muse war eine Göttin, ihre Botschaft war heilig für die Griechen wie später der Koran für die Moslems, man mußte an sie glauben. Doch im Götterhimmel war die Muse speziell für die Sprache und die Kunst zuständig, und so kam es, daß den Griechen - vielleicht als dem einzigen Volk auf Erden - parallel und zeitgleich zu ihrem Glauben der ästhetische Sinn eingeimpft wurde. Ihre Religion war von Anfang an Kunstreligion.

Odyssee und Ilias waren heilige Bücher, aber sie waren auch künstlerische Ereignisse, wurden sogleich als solche wahrgenommen. Ihre reiche sprachliche Ausgestaltung reizte schon ganz früh zu exegetischen Abenteuern, zu Philologie und Formvergleich. Die sprachlichen Eigenheiten Homers, seine Gleichnisse, Formeln und Schmuckworte wurden "an sich" interessant, zumal die vorhandenen Exemplare der Texte durchaus nicht immer den selben Wortlaut hatten. Da galt es also zu vergleichen, abzuwägen und zu entscheiden.

Es war ein erstrangiger Gegenstand des öffentlichen "Diskurses", wie wir heute sagen würden, eines Diskurses, der sich ganz ungeniert neben dem Götterdienst und neben der Politik etablierte. Pankraz ist sich ziemlich sicher: Der frühe ästhetische Diskurs über Homer und seine Epen hat ganz entscheidend zur Herausbildung des griechischen Polis- und Demokratiebewußtseins beigetragen.

Die Polis-Mitglieder begannen sich darin erstmals als eine Gemeinschaft zu fühlen, welche nicht nur mehr von traditionellen Stammesbanden zusammengehalten wurde und vom despotischen Willen eines Königs oder Tyrannen, sondern welche durch gründliche Diskussion und freie, einzig der Sache hingegebene Entscheidungen entstand. Erst durch die von ihnen mit aller Beredsamkeit und mit allem Einsatz von Reflexion und Selbstreflexion abgehaltenen ästhetischen Homer-Diskurse wurden die Griechen sie selbst und zu Schrittmachern einer Tradition, die uns noch heute prägt.

Was sollen uns da gänzlich unbewiesene, unbeweisbare und mit sektiererischer Wut vorgetragene Phantastereien über assyrische Eunuchen, die mit Hilfe von Ilias und Odyssee an ihrer Impotenz kurieren? So etwas dürfte eigentlich nicht einmal zur Unterhaltung in heutigen mitteleuropäischen Intellektuellenkreisen taugen.

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