© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

Tendenzen zur Verkitschung
Eine Vielzahl von Buchtiteln widmet sich dem Jahr 1968 / Nur wenige weisen eine kritische Distanz auf
Werner Olles

Die 68er erinnern sich an 68. Vierzig Jahre danach war diese Rückschau zu erwarten. Gleichwohl irritiert der Ausstoß an Literatur, der kein Ende zu nehmen scheint. Diese Jahreszahl hat inzwischen wohl etwas Magisches, ob zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt. Fast noch irritierender sind jedoch die Ambivalenzen in der Grundstimmung der damals Dabeigewesenen. Doch scheint dies bei Angehörigen einer historisch markierten Generation nicht selten der Fall zu sein. In der Kollektiverinnerung ist das Achsenjahr 1968, das genaugenommen von 1967 bis 1969 dauerte, ohnehin entweder von moralischen Bekenntniszwängen und emotionalen Identifizierungen einerseits oder vom Vorwurf der Verharmlosung des größten Traditionsbruchs der jüngeren deutschen Geschichte geprägt.

Das Buch des Soziologen, Ex-Pflasterstrand- und taz-Autors und heutigen Spiegel-Online-Redakteurs Reinhard Mohr heißt "Der diskrete Charme der Rebellion". Fast im Plauderton erzählt es über "Ein Leben mit den 68ern", jedenfalls verspricht das der Untertitel. Obwohl Mohr damals noch zu jung war, um dabeigewesen zu sein, gleitet er bisweilen ins Anekdotische ab, und auch seine analytischen Setzungen leuchten keineswegs immer ein. Bereits im Vorwort bemüht er das offenbar nicht totzukriegende Klischee vom "bis heute spürbaren Glutkern" jener "Idee von der freien und glücklichen Gesellschaft" und "vom kollektiv befreiten Individuum, das keine Unterdrückung mehr kennt und keine Einsamkeit der sich selbst entfremdeten leeren Existenz". Man liest es und glaubt es nicht. Stand nicht am Beginn jener Fundamentalopposition von 1967/68 als eigentliche Grundlegungsschrift Horkheimers und Adornos "Dialektik der Aufklärung", die so rigoros mit der Fortschrittsgläubigkeit abrechnete wie kein anderes Werk zuvor?

Doch ist Mohr erst einmal in seinem Element, nimmt der "kaum zu beschreibende Wärmestrom, der aus der gemeinsamen Vergangenheit rührt, eine geradezu liebevolle Innigkeit unter Leuten, die für ein extrem dichtes, erlebnisreiches Jahrzehnt einen Traum geteilt hatten" kein Ende. Tatsächlich träumten aber die damaligen Protagonisten ganz unterschiedliche, ja völlig gegensätzliche Träume. Während die einen noch von Sex, Drugs & Rock'n'Roll fantasierten und den Joint kreisen ließen, rollten die anderen in Gedanken schon die Stacheldrahtzäume der Umerziehungslager für alle "Volksfeinde" aus. Aber auch die "ebenso reaktionären wie autoritären fünfziger Jahre, die bis tief in die sechziger Jahre hineinwirkten" werden noch einmal bemüht, der "Kitsch des deutschen Nachkriegsfilms" beklagt und der aufklärerische Segen der "edition suhrkamp" bejubelt.

Keine Einwände gegen den antiautoritären Furor, gegen die massenhaften Verblendungszusammenhänge und auch kein Mitleid mit den Psychowracks aus den zahllosen Polit-Sekten, nirgends. Der Terror gegen Adorno, Carlo Schmid und die vielen konservativen Professoren wird heruntergespielt, den späteren Karrieren von Figuren wie Joseph Martin Fischer oder Hans-Gerhart Schmierer eine Hochachtung gezollt, die Übelkeit erregt. Mohrs 68er-Buch ist entbehrlich, vor allem, weil es über weite Strecken im Gewand nachträglicher Hofberichterstattung eines, der schrecklich gerne mitgemacht hätte, daherkommt.

Im Gegensatz zu Mohr war der Schriftsteller Peter Schneider einer der Aktivisten des Berliner SDS. Doch ist seine autobiographische Erzählung "Rebellion und Wahn" nach jener Maxime der 68er gestrickt, daß alles Private natürlich auch immer politisch ist. Schneiders sehr persönliche Anmerkungen zu den Ereignissen können dann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die auf einer starken emotionalen Ebene hergestellte Identifizierung des inzwischen 68jährigen mit den 68ern keinen politischen Stellenwert hat, und daß es ihm an kaum einer Stelle gelingt, die phänomenologisch-existentialistischen Bindungen zu "seinem 68" zu durchbrechen. Das ist schade, denn dadurch deklassiert sich sein Buch zu einem mimetischen Bewältigungsversuch, der keine Widersprüche achtet, sondern zwischen linksradikalen Behelfstheorien und politischem Aktionismus einerseits und der aufwühlenden, leidenschaftlichen Liebe zu einer Frau andererseits, ständig nach flachen Kompromissen sucht.

Wer dagegen wirklich etwas über '68 erfahren möchte, sollte den zuverlässigsten Chronisten der Studentenbewegung und des "roten Jahrzehnts" zu Rate ziehen. Wolfgang Kraushaars "Achtundsechzig" ist in der Tat "eine Bilanz" nicht nur des SDS als Fokus der antiautoritären Bewegung in seiner Hochzeit zwischen 1967 und 1969. Kraushaar verortet ihre Wurzeln in der Bay Area von San Francisco und der Berkeley Universität . Hier entwickelte sich im Herbst 1964 das Free Speech Movement als "Urmodell für die weltweit ausbrechenden Studentenrevolten". Über die Hippie-Bewegung von Haight-Ashbury im Sommer 1965 und die ein Jahr später im benachbarten Oakland gegründete Black-Power-Bewegung , formierte sich eine Gegenkultur zum "American Way of Life", die als Basislager aller auf sie folgenden Subkulturen galt und mit einer gewissen Verzögerung auch Tausende Kilometer weiter, mitten im Herzen Europas Platz nahm und hier zum Geburtshelfer einer zwischen Marx und Marcuse irrlichternden Neuen Linken avancierte.

Kraushaar, der im September 1968 nach Frankfurt kam, um hier Politikwissenschaften und Geschichte zu studieren und Mitte der siebziger Jahre AStA-Vorsitzender war, definiert "68" als eine Art "Projektionsleinwand" für die verschiedenen politischen Lager. Von den Konservativen als "Grundübel aller gesellschaftlichen Fehlentwicklungen" verdammt und von den Linken zum "nachträglichen Gründungsakt der Bundesrepublik" stilisiert - Habermas verstieg sich gar dazu, von einer "Fundamentalliberalisierung" zu fabulieren -, sieht Kraushaar durchaus "Ausformungen totalitären Größenwahns" und nennt die Idee einer revolutionären Machtergreifung "eine Fiktion". Und dennoch war es wohl kein Zufall, daß die Radikalisierung von Teilen der Studentenschaft am schärfsten im freien Teil Deutschlands und Berlins stattfand, während andere westliche Industriegesellschaften vergleichsweise glimpflich davonkamen. So drückten sich die deutsche Teilung und der Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus in West-Berlin als einer Insel im Ostblock, wo die Machtblöcke aufeinanderprallten, hochgradig aufgeladen mit Fragen weltanschaulicher aber auch geopolitischer Natur aus.

Die Erinnerung an einen Mythos ist immer problematisch. Kraushaar löst dieses Problem geradezu exemplarisch, indem er auf die Wechselhaftigkeiten mancher Achtundsechziger-Biographien eingeht und den Renegaten von Günter Maschke und Bernd Rabehl bis zu Mahler/Oberlercher ein eigenes Kapitel widmet. Damit schließt sich das Tor einer politischen Schauerromantik in der Nähe von Schizophrenie, Paranoia und kultischer Mystifikation hoffentlich endgültig.

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Propyläen Verlag, Berlin 2008, gebunden, 255 Seiten, 19,90 Euro

Reinhard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern. wjs-verlag, Berlin 2008, gebunden, 238 Seiten, 16 Euro

Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Eine autobiographische Erzählung. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, gebunden, 364 Seiten, 19,95 Euro

 

Werner Olles war 1968/69 Mitglied im Frankfurter SDS, danach engagierte er sich in Splittergruppen der "Neuen Linken".

Foto: Vietnam-Demonstration, Berlin-Charlottenburg, 18. Februar 1968: In Gedanken schon Umerziehungslager für alle "Volksfeinde" errichtet

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