© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

Der Prophet des Wassermanns
Einsamkeit, Innenschau, Hellsicht: Eine Erinnerung an den Kulturhistoriker und Bonvivant Egon Friedell
Peter Gädecke

Warum hat sich der Doktor Friedell denn am 16. März 1938 in Wien wohl aus dem Fenster gestürzt? Aus Freude über den "Anschluß". Zugegeben, das ist ein sehr zynischer Witz. Aber einer, den Egon Friedell vermutlich selbst gern erzählt hätte.

Denn in Biographie und Werk dieses Essayisten, Kulturhistorikers, Dramatikers, Schauspielers, Kleinkünstlers und "letzten universalen Menschen" (Hilde Spiel) scheint es ständig auf eine Pointe zuzulaufen. Zahllos sind die "Friedell-Anekdoten". Zwei Kostproben: Als die drei Bände seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" (1927-1931) vorlagen, die ihn schlagartig berühmt machten, ermunterte er eine Freundin zur Lektüre und bekam zu hören: "Darin steht doch bloß alles, was mich nicht interessiert." Replik Friedells: "So dick ist es nun auch wieder nicht." Oder der Vorwurf eines kleinen Verlegers, warum er nicht ihm die so rentable "Kulturgeschichte" überlassen habe. Antwort: "Gott bewahre! Bei Ihnen wäre nicht einmal das Neue Testament etwas geworden."

An witzigen Zuspitzungen, pointierten Paradoxien, hämischem Humor, kontrastreicher Polemik, ätzender Charakteristik herrscht auch in der "Kulturgeschichte" kein Mangel. Über den Altmärker Johann Joachim Winckelmann, den "Erfinder" des angeblich von "stiller Einfalt und edler Größe" geprägten "klassischen" Griechenland, heißt es, daß seine Ästhetik sich aus seiner Homosexualität speise. Das "homosexuelle Auge" sehe nur Kontur, Linienschönheit, Plastik. Folglich gehe die "ganze fixe Idee des 'Klassizismus' zurück auf die sexuelle Perversion eines deutschen Provinzantiquars".

Diese Schärfe war steigerungsfähig. Ein Feuerwerk der Invektive brennt Friedell im Kapitel über die Französische Revolution ab. Jean Paul Marat, den Martin Mosebach unlängst mit Heinrich Himmler verglich: eine "tollgewordene Kellerratte, der das Versagen des öffentlichen Kanalisationssystems die Möglichkeit gibt, aus ihrer Latrine hervorzuschießen (...), von einem unstillbaren Haß gegen alle erfüllt, die gewaschen, vollsinnig, nicht deformiert, nicht luetisch sind, der typische Vertreter des Gesindels der Revolution ..."

Die Herausgeber der neuesten Friedell-Anthologie, "Vom Schaltwerk der Gedanken", gedacht offenbar zum 120. Geburtstag am 21. Januar 2008 oder zum nun anstehenden 70. Todestag, mußten einige Mühe aufwenden, um solche politischen Inkorrektheiten zu umschiffen. Geboten wird ein weichgespülter Friedell, dessen Weltbild den Erwartungen entsprechen muß, die man heute an ein "Naziopfer" stellt.

Keine Spur findet sich daher auf 700 Seiten von seiner Bewunderung für Bismarck oder den Erzreaktionär Carlyle. Nur vorsichtige Hinweise darauf, daß aus Friedells Perspektive allein "große Männer" Weltgeschichte machen, die Menschheit sich im Genie erfüllt. Nichts von seiner konterrevolutionären Verachtung der "Ideen von 1789", die unter der "Opernphrase" Egalité nur die verwerflichere Form der Ungleichheit, die kapitalistische, realisiert hätten. Keine Andeutung auch seines aufreizenden Antidemokratismus. Nirgends ein Hinweis auf sein Grauen vor den "Vollstreckungsmächten" des "materialistischen Nihilismus", der US-Plutokratie und dem Sowjet-Bolschewismus. Daß kritische Reflexionen, die dem als Egon Friedmann geborenen Fabrikantensohn heute günstigenfalls als "jüdischer Selbsthaß" durchgingen, in einer derart "gesäuberten" Textsammlung fehlen, bedarf schon keiner Erwähnung mehr.

Immerhin ist aber die in acht Sprachen übersetzte "Kulturgeschichte der Neuzeit", mittlerweile bei einer Gesamtauflage von 150.000, weiter im Buchhandel greifbar, so daß jedermann auf den "ganzen", rundum anstößig "konservativen" Friedell zugreifen kann. Indes bietet der mehr als bloß die - ungeachtet der kompakten Gelehrsamkeit des Opus - unterhaltsamere Version von Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes". Zwar ist auch Friedell von der Unabwendbarkeit dieses Untergangs überzeugt. Doch im Gegensatz zum frühpensionierten und gänzlich humorlosen deutschen Oberlehrer eröffnet der Wiener Bonvivant einen entschieden verheißungsvolleren Ausweg. Die "europäische Seele", dies der Grundbaß seiner kulturhistorischen Chronik ihrer seit dem 15. Jahrhundert durchlittenen "Krise", versinke am Ende ihrer "lemurischen" Epoche zwar im "Materialismus". Doch nur, um im 21. Jahrhundert ins "Zeitalter des Wassermanns zu übersiedeln": "Wassermann bedeutet: Einsamkeit, Innenschau, Hellsicht, Tiefenperspektive. Wassermann bedeutet das Ende des Glaubens an den Primat des Sozialen, an die Wichtigkeit der Oberfläche, die Beweiskraft der Nähe, die Realität der Realität." Bis dahin, so Friedell 1931, seien noch die horriblen "Vollstreckungsmächte" zu überstehen, aber dann sei das "rationalistische Intermezzo" zu Ende.

Nach 1933 glaubte Friedell für Augenblicke, in der NS-Bewegung ideologisch Verwandtes wahrzunehmen und ein "Arrangement" treffen zu können, das den Absatz seiner Bücher in Deutschland, die eigene Existenz als Privatgelehrter gesichert hätte. Carl Zuckmayer kolportiert, daß ihm selbst 1937 noch Avancen gemacht wurden - von Joseph Goebbels, einem der vielen begeisterten Leser der "Kulturgeschichte" unter den NS-Oberen. Eine "Ehren-Arier"-Offerte? Doch schon lange vor Adolf Hitlers Einzug in Wien im März 1938 war ihm das Illusionäre solcher Winkelzüge bewußt. Aber der Weg ins Exil blieb ihm wiederum zuwider. Er sei deutscher Schriftsteller, wolle nicht als politischer Propagandist in der Emigration enden.

Nach sechzig Jahren in Wien, das er nie gern verlassen hatte, nur zu Vorlesungen und Gastspielen nach Berlin oder München, dank üppiger Honorare auch Richtung Kufstein, ins Sommerhäuschen, wollte er sein geliebtes Bibliotheksverlies in der Gentzgasse nicht mehr mit einem Hotelzimmer in Paris oder London vertauschen. Im Januar 1938 erbat er von seinem Arzt Gift. Ebenso vergeblich versuchte er, einen Pistole zu organisieren. Als sechs Wochen später zwei SA-Männer klingelten und die Haushälterin fragten, ob "der Jud Friedell" daheim sei, war der Sprung aus dem Fenster keine Panikreaktion mehr. Passanten soll er noch zugerufen haben, sie möchten doch bitte aus dem Weg gehen.

Egon Friedell: Vom Schaltwerk der Gedanken. Ausgewählte Essays zu Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Theater und Literatur. Herausgegeben von Daniel Keel und Daniel Kampa, Diogenes Verlag, Zürich 2007, gebunden, 696 Seiten, 29,90 Euro

Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, C. H. Beck, München 2007, gebunden, 24,90 Euro

Foto: Egon Friedell in seinem Arbeitszimmer (1934): Ständig scheint es bei ihm auf eine Pointe zuzulaufen

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