© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/08 07. März 2008

Widerstände waren kaum meßbar
Österreichs "Anschluß" am 11. März 1938: Selbst in Tirol verflog der Zorn auf die NS-Regierung wegen der Südtiroler Verzichtspolitik
Peter Rohregger

Da war ich gestern in Innsbruck und habe 30.000 Bauern defilieren gesehen. 30.000 deutsche Bauern, und jeder einzelne war mehr Germane als sämtliche deutsche Oberlehrer zusammen." Was der als Korrespondent für die Münchner Neuesten Nachrichten nach Innsbruck gereiste bayerische Dichter Ludwig Thoma am 29. August 1909 zu sehen bekam, gab ihm für den Bestand des Deutschtums noch etwas Zuversicht: "Ich bin drei Stunden lang glücklich gewesen, als Deutscher zu sehen, wie unser Volk einmal war, bevor es Bäckerbäuche und Gelehrtenbrillen verschandelt haben." Ludwig Thoma war Augenzeuge der großen, auch von Kaiser Franz Joseph beehrten Hundertjahrfeier zur Erinnerung an den (kurzfristigen) Sieg der Tiroler Bauern gegen die napoleonischen und bayerischen Truppen.

Tirol als "deutsche Felsenburg und treue Grenzwacht im Süden", das war auch für die Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirche 1848 nur natürlich. Die Exekution des Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer durch die Franzosen wird in der Tiroler Landeshymne noch heute mit den Worten "... ganz Deutschland ach in Schmach und Schmerz" betrauert.

Bis weit in die Jahre des Zweiten Weltkrieges hinein war es für die große Mehrheit der Tiroler und der anderen Österreicher eine absolute Selbstverständlichkeit, sich als Deutscher zu fühlen und als solcher zu bezeichnen. Immerhin wurde vom heimatlichen Territorium aus durch das eigene deutsche Geschlecht der Habsburger jahrhundertelang das erste Deutsche Reich regiert. Noch die beiden letzten österreichischen Bundeskanzler vor dem "Anschluß" - Dollfuß und Schuschnigg - betonten, daß sie selbst und die Österreicher in ihrer Gesamtheit selbstredend Deutsche seien, allerdings die "besseren Deutschen" (mit Blick auf die Nationalsozialisten).

Damit die Distanzierung vom Verlierer des Zweiten Weltkrieges effektiver gelang, wurde ab 1945 das kollektive historische Gedächtnis der Österreicher vom deutschen Erbe "entrümpelt", und die gleichzeitige Neuorientierung auf eine "österreichische Nation" hat bis jetzt auf schulischer, politischer und medialer Ebene hervorragend funktioniert.

Der Stellenwert der deutschen Gemeinsamkeit unterschied sich am Ende des Ersten Weltkrieges zu 1945 wie Tag und Nacht. Als sich der alte Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn in verschiedene nationale Gebilde auflöste, war es für die Deutschösterreicher die natürlichste Sache der Welt, so rasch wie möglich ein Teil der neuen deutschen Republik zu werden. Nur die letzten Kaisertreuen und ein Teil der Klerikalen standen dem "Heim ins Reich" mit einigem Vorbehalt gegenüber. Die strikte Gegnerschaft der Siegermächte gegenüber dem "Anschluß" - laut Abschnitt 80 des Vertrages von Versailles mußte Deutschland die Unabhängigkeit Österreichs "streng in den durch den gegenwärtigen Vertrag festgesetzten Grenzen als unabänderlich beachten" - und auch zögerliche Politiker hüben und drüben verhinderten und behinderten allerdings den mehrheitlichen Bevölkerungswunsch nach der Vereinigung.

Dem vorsichtigen Taktieren der Wiener Regierung überdrüssig geworden, ergriff man in Tirol schließlich die Initiative, um durch eine Volksabstimmung am 24. April 1924 den nötigen öffentlichen Druck zu erzeugen. Der schon seit 1871 im Grenzstädtchen Kufstein erscheinende nationalliberale Tiroler Grenzbote titelte am Vorabend der landesweiten Abstimmung: "Tirol, unser armes, zerrissenes, blutendes Land, ersehnt die Vereinigung mit dem Mutterland und die Heimkehr des deutschen Südens. In froher Erwartung, damit das baldige Fallen der nahen Grenzpfähle zu erwirken, dringt der bergfrische Ruf durchs Inntal: Deutschland wir grüßen dich!" An der Volksbefragung nahmen neunzig Prozent der wahlberechtigten Tiroler teil, von diesen wiederum votierten in freier Abstimmung 98,6 Prozent für den Anschluß an Deutschland. Der Tiroler Grenzbote freute sich in seiner Ausgabe vom 27. April 1924: "Damit wurde aller Welt bewiesen, daß der von allen Parteien einmütig gefaßte Beschluß der wahre, unbeeinflußte Wille des Tiroler Volkes ist. Der Sieg bedeutet die Morgenleuchte kommender Freiheit des ganzen Deutschtums."

Es kam anders. Vor allem für Frankreich kam eine Vergrößerung Deutschlands nicht in Frage. Trotz der weltpolitischen Widrigkeiten verlor man in Tirol das "völkische" Ziel nicht aus den Augen. An den Pfingstfeiertagen des Jahres 1925 war Kufstein dazu auserkoren, die Jahresversammlung der deutschen Schutzvereine zu organisieren. 30.000 Besucher aus allen deutschen Gebieten, nicht wenige auch aus dem fernen Ostpreußen, verwandelten die Tagung zu einer mächtigen, international beachteten "gesamtdeutschen" Kundgebung. Dieser imponierende völkische Aufmarsch im Tiroler Unterland war selbst Mussolini nicht geheuer und er ließ mehrere Regimenter Infanterie und Artillerie an der Grenze aufmarschieren. In Kufstein war man sehr stolz, einige Tage lang im Brennpunkt des öffentlichen deutschen Interesses zu stehen. Der Tiroler Grenzbote schwelgte mehrere Ausgaben lang in völkischen Superlativen.

Nur zur Erinnerung: Dieses "Fest aller Deutschen" fand 13 Jahre vor dem "Anschluß" statt. Tirol wurde von den Christlichsozialen regiert, und nicht nur der Kufsteiner Grenzbote schwebte durch den "großdeutschen Himmel", auch der Großteil der anderen Tiroler Tages- und Wochenzeitungen konnte und wollte sich der Begeisterung für die "Deutschen Tage" nicht entziehen. Nur die Sozialdemokraten lästerten über den überschwappenden nationalen Rummel.

Der Fackelzug am Abend des Sonntags nahm ähnliche Inszenierungen des NS-Regimes schon um Jahre vorweg: "Das Herz Jungdeutschlands schlug in Zehntausenden von Flammen in Kufsteins trotzigem Gemäuer. Frei wollen wir sein! forderte die Jugend, die durch unermüdliche Arbeit des Vereines für das Deutschtum im Auslande gelernt hat, was uns der Schandvertrag von Versailles und St. Germain gegeben hat, die sich selbst erzieht zu unbedingtem Gehorsam und Unterordnung unter den Willen der großdeutschen Führer."

Während der Festversammlung am Pfingstmontag löste das Vorlesen eines Grußtelegramms des Reichspräsidenten von Hindenburg stürmische Begeisterung aus. Die Bedeutung der "völkischen Tagung" in Kufstein wertete der Grenzbote nicht unbescheiden: "Man kann ruhig mit ihr einen neuen Abschnitt der Geschichte des deutschen Wiederaufstieges beginnen lassen." In der Berliner Tageszeitung Der Jungdeutsche schwärmte der in Kufstein dabeigewesene Reporter: "Dies Land, dies Volk sind urdeutsch, ja mit Beschämung müssen wir es gestehen, sie sind mutvoller deutsch, stolzer deutsch, als manche Kreise in Berlin - auch in Wien - die mit ängstlichen Blicken die machtvolle Kundgebung dieser Tage verfolgen."

Zwei Jahre nach dem Kufsteiner "Fest aller Deutschen" wurde das von Tirol aus unermüdlich propagierte "heilige Ziel der deutschen Sendung" von einem gewissen Herrn Hitler aus München beschmutzt. Es wurde bekannt, daß dieser im Falle einer künftigen Regierungsverantwortung sich nicht für Südtirol einsetzen werde, um Mussolinis Unterstützung für die Nationalsozialisten nicht zu gefährden. Die Aufregung über eine solche "Verzichtspolitik" war groß. In einem gemeinsamen Brief aller völkischen Vereine des kleinen Alpenlandes wurden dem künftigen Führer und Reichskanzler streng die Leviten gelesen: "Die zynisch-freche Art, mit der Sie überhaupt über die Südtiroler Frage hinweggehen, hat in allen völkisch gesinnten Kreisen helle Empörung hervorgerufen. Vor allem mangelt Ihnen die bescheidenste Sachkenntnis, um über derartige politische Fragen sprechen zu können. Von den Verhältnissen in Südtirol haben Sie, Herr Hitler, keine Ahnung. Wir raten Ihnen: Betreten Sie nicht Tiroler Boden! Lassen Sie Ihre Hände weg von dem reinen, heiligen Tirol." Fast auf den Tag genau elf Jahre nach der Absendung dieses Briefes werden annähernd 150.000 Tiroler Hitler in Innsbruck frenetisch bejubeln.

Am 12. März 1938 schließlich wurden die Kufsteiner, die Tiroler, die Österreicher für ihr langes Warten auf die deutsche Einheit entschädigt. Der Verlag des Tiroler Grenzboten konnte nun jene Sonderausgabe herstellen und verteilen, auf deren Herausgabe man schon seit fast zwei Jahrzehnten gewartet hatte. Auf der Titelseite wurde frohlockt: "Österreich ist frei! Ein Tag von größter geschichtlicher Wucht liegt hinter uns. In dem Augenblick, in dem noch einmal eine volksverräterische Clique in Wien den Versuch unternahm, das Schicksal der Deutschen in Österreich aus dem großen Geschehen des Gesamtvolkes separatistisch abzuspalten, ist mit elementarer Kraft der Damm endlich gebrochen. Deutschösterreich ist frei."

Am Abend des 11. März, nach dem Rücktritt der Regierung Schuschnigg, kannte die Freude in der "Ostmark" keine Grenzen mehr. Der Einmarsch der deutschen Truppen am frühen Vormittag des 12. März fand in den dick gefüllten Spalten des Tiroler Grenzboten folgenden Widerhall: "Die Augenblicke des Einmarsches waren unbeschreiblich. Sie lösten einen Begeisterungssturm aus, wie ihn Kufstein in dieser elementaren Wucht und Größe noch nie gesehen hat. Straßen und Plätze voll von Menschen, den Soldaten zujubelnd, deutschen Volksgenossen, Träger der wiedererstandenen deutschen Macht. (...) Endlich dürfen wir wieder frei und stolz den Kopf tragen, von einem Alp befreit, der den Atem abschnürte. Wir Österreicher, die wir uns noch viel lieber und schöner, am allerliebsten Deutsche nennen - wir sind auf einmal das glücklichste Volk auf der ganzen Welt geworden!"

Die gleichwohl den Anschein einer rhetorischen Frage bietende Abstimmungs-Entscheidung "Bist Du mit der am 13. März vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler" beantworteten 98,9 Prozent der wahlberechtigten Tiroler bei der Volksabstimmung am 10. April mit "Ja". Der gesamtösterreichische Durchschnitt lag bei 99,3 Prozent. In Kufstein stimmten 4.555 Personen mit "Ja" und lediglich 16 mit "Nein". Heute sind sich die meisten Historiker einig, daß es direkte Unregelmäßigkeiten bei der geheimen Wahl und bei der Auszählung nicht gab.

Personell und an der inhaltlichen Redaktionsarbeit für den Tiroler Grenzboten änderte sich durch den "Anschluß" noch für lange Zeit nichts. Man war seit 1871 kontinuierlich einer übergeordneten nationalliberalen, freiheitlichen Idee verpflichtet, und in vergleichsweise gemäßigter Tonart wurden die politischen Ideale - umgeben von lokalen und überregionalen Neuigkeiten - bis 1938 und auch noch danach einer interessierten kleinstädtischen und ländlichen Leserschaft nähergebracht.

Foto: Hitler nach dem Anschluß auf dem Wiener Ring: Grenzenloser Enthusiasmus beim "ersten Opfer Hitlers" (Otto von Habsburg)

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