© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/08 07. März 2008

Die unbehagliche neue Ungleichheit
USA: Die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik wird die Präsidentschaftswahlen entscheidend beeinfl ussen
Elliot Neaman

In seiner "Theorie der Gerechtigkeit" (1971) formulierte der Harvard-Philosoph John Rawls ein Gedankenexperiment: Man solle sich vorstellen, man könne eine neue Gesellschaft schaffen, die allen Bürgern die größtmögliche Gerechtigkeit bietet. Allerdings müsse man die Grundregeln hinter einem "Schleier des Nichtwissens" entwerfen - ohne die eigene soziale Position innerhalb dieser Gesellschaft zu kennen. Ähnlich wie in der Spieltheorie gilt es also Kalkulationen anzustellen, welche politische Struktur den eigenen Interessen am ehesten zugute käme, wenn man nicht weiß, auf welcher Stufe der Leiter man stehen würde.

Konservative und liberale Geister scheiden sich an dieser Aufgabe ebenso wie Amerikaner und Europäer. US-Liberale (die man in Europa als Sozialdemokraten bezeichnen würde) bewundern das Modell des europäischen Wohlfahrtsstaats, weil sie es für die in Rawls' Sinne gerechteste Lösung halten: Durch eine hohe Steuerbelastung schafft der Staat ein riesiges Netz sozialpolitischer Programme und gewährleistet auf diese Weise, daß die Kluft zwischen Arm und Reich nicht allzu groß wird. US-Konservative (die man in Europa als Liberale bezeichnen würde) bevorzugen Chancengleichheit gegenüber Verteilungsgerechtigkeit. Sie sind bereit, in bezug auf Status und Vermögen große Unterschiede zwischen den Bürgern hinzunehmen, solange die Spielregeln so gut wie jedem die Möglichkeit geben, sich sozial und wirtschaftlich besserzustellen. Vom Zeitraum der Großen Depression abgesehen favorisierten die US-Amerikaner während des 20. Jahrhunderts mehrheitlich die konservative Variante.

Dieser Mentalitätsunterschied erklärt auch, warum der Sozialismus in den USA kaum Aussichten auf Erfolg hatte (vielleicht auch, warum ein individualistisches Spiel wie Baseball beliebter ist als der Mannschaftssport Fußball). Solange die Amerikaner in einem Zeitalter zunehmenden Wohlstands lebten, schienen Klassenunterschiede keine so entscheidende Rolle zu spielen wie in Europa. Daß sich dies rapide ändert, ist ein unausgesprochenes Hintergrundmotiv beim Präsidentschaftswahlkampf 2008. Keiner der drei realistischen Bewerber - weder der Republikaner John McCain noch die Demokraten Barack Obama und Hillary Clinton - kann es sich leisten, offen über Klasse zu sprechen.

In ihren wirtschaftspolitischen Positionierungen spiegelt sich jedoch die Tatsache wider, daß die Amerikaner wissen, die Regeln haben sich geändert. Die reichsten fünf Prozent besitzen zusammen mehr als die restlichen 95 Prozent der US-Bevölkerung. Wir leben quasi in einem zweiten Gilded Age, einer Neuauflage des "Vergoldeten Zeitalters" im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Unterschied zu damals besteht darin, daß es heute sehr viel schwieriger geworden ist, aufzusteigen. Unter Berücksichtigung der Inflation sind die Löhne der US-Arbeiter in den letzten zwanzig Jahren kaum gestiegen. Auf der anderen Seite der Kluft ist durch vererbtes Vermögen eine neue Klasse von superreichen Familien entstanden.

Selbst der Republikanischen Partei ist klar, daß die alte "Reaganomics"-Zauberformel einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik heute nicht mehr zieht. Die meisten Amerikaner begreifen implizit, daß die Regeln sich zugunsten der Reichen und Superreichen verschoben haben. Die Frage der Gesundheitsvorsorge ist ein gutes Beispiel, um die wachsende Einkommensungleichheit zu illustrieren. Entgegen den Annahmen vieler Europäer sind über 80 Prozent der US-Bürger krankenversichert. Es gibt jedoch viele unterschiedliche Versicherungspolicen, von denen manche über Sozialprogramme finanziert werden, die meisten laufen aber über private Assekuranzen. Die abgedeckten Leistungen klaffen weit auseinander. Von den 60 Millionen, die keinen Versicherungsschutz haben, sind viele unter Dreißig. Gerade gesunde junge Menschen glauben, daß es sich nicht lohnt, für eine Versicherung zu zahlen, die sie kaum in Anspruch nehmen.

McCains Wahlprogramm sieht eine Steuerrückzahlung für den Kauf einer Privatversicherung vor. Dies soll selbst Menschen zugute kommen, die gar keine Steuern zahlen, es wäre insofern ein Fortschritt gegenüber früheren republikanischen Vorschlägen, die die Krise in der Gesundheitsvorsorge allein über die Privatwirtschaft lösen wollten. McCains Plan würde wahrscheinlich nicht viel zu einer Lösung des Problems beitragen, aber immerhin zeugt seine Wende hin zu staatlicher Unterstützung von der Erkenntnis, daß die alten Marktlösungen nicht mehr ausreichen.

Obama und Clinton hegen ehrgeizigere Absichten. Beide planen eine allgemeine Krankenversicherungspflicht, die große Firmen dazu verpflichtet, ihre Beschäftigten zu versichern. Alle übrigen Bürger müßten die Kosten selber übernehmen, würden dafür aber gegebenenfalls staatliche Hilfe erhalten. Obamas Entwurf sieht mehr Ausnahmen vor als Clintons, grundsätzlich aber wollen beide dasselbe, nämlich die fünfzig Bundesstaaten dazu zwingen, verschiedene Lösungswege auszuprobieren, um zu gewährleisten, daß alle Bürger Zugang zu medizinischen Leistungen haben.

Daß die Amerikaner sich überhaupt für ein Modell der Gesundheitsvorsorge erwärmen können, das dem Vorbild des europäischen Wohlfahrtsstaats folgt, ist allein schon bedeutsam. Sowohl Clintons wie Obamas Wahlprogramme beinhalten tausendfache Eingriffe in die Privatwirtschaft, von Umschulungsmaßnahmen für Arbeitslose bis hin zu Steuervergünstigungen für Familien, um ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen.

Doch: Wer immer die Wahl gewinnt, wird große Schwierigkeiten haben, derartige Sozialvorhaben zu finanzieren. Momentan hat der Kongreß sogenannte "Pay-Go"-Regeln, die besagen, daß neue Regierungsprogramme entweder durch Einsparungen an anderer Stelle oder aber durch neue Steuern finanziert werden müssen. Beide Alternativen lassen sich nicht ohne weiteres durchsetzen.

So sieht die neue Wirklichkeit aus, mit der sich Amerika nach acht Jahren unter George W. Bush konfrontiert sieht. Clinton und Obama kündigen an, die Steuervergünstigungen für die Wohlhabenden auslaufen zu lassen. Richtig ist, daß der Fiskus dadurch Hunderte Milliarden Dollar einnehmen würde. Gemäß der Pay-Go-Regelung müßten diese Gelder aber verwendet werden, um den US-Schuldenberg von fast zehn Billionen Dollar abzubauen.

Diese finanzielle Zwangsjacke ist nur eins von vielen Beispielen dafür, wie sehr die USA von ihrer einstigen Großmachtposition abgefallen sind. Auch wenn New York nach wie vor die Weltfinanzhauptstadt ist, beginnen London, Schanghai und andere Börsenzentren ihr Konkurrenz zu machen - ebenso wie der Euro und der Yen dem Dollar als globale Investitionswährung gefährlich werden.

Im Rückblick erscheint der Irak-Krieg als die Wendemarke: Ein überdehntes amerikanisches Imperium sah sich genau zu dem Zeitpunkt gezwungen, seine Militärausgaben zu reduzieren, da die Chinesen begonnen haben, ihre wirtschaftliche Macht in militärische Präsenz in ihrer geopolitischen Sphäre umzuwandeln. Der nächste Präsident muß sich damit auseinandersetzen, daß der Rest der Welt nicht stillgestanden hat, während die USA im Irak feststeckten und ihre eigene Infrastruktur verfallen ließen. Man braucht nur die hochmodernen Verkehrsmittel, technologischen Innovationen und dynamischen Städte in Europa und Teilen von Asien und Lateinamerika mit dem traurigen Zustand veralteter Flughäfen und Fernstraßen, den langsamen Internet-Verbindungen und eingeschränkten Bandbreiten zu vergleichen, um zu sehen, wie weit Nordamerika gegenüber dem Rest der post-industriellen Welt zurückgefallen ist.

Ähnliches haben die USA schon früher durchgemacht, etwa mit dem schweren Verfall ihrer Stadtzentren in den 1970ern und der scharfen Konkurrenz aus Japan in den 1980ern. In den 1990ern konnten sie diese Rückschläge mehr als wettmachen. Man darf die Dynamik der US-Gesellschaft nie unterschätzen. Dennoch wird der nächste Präsident vor ungeheuren Herausforderungen stehen. Wohl auch deshalb ist Obama, dessen charismatischer Wahlkampf den frischen, tatendurstigen Geist von John F. Kennedy 1960 heraufbeschwört, bislang so überaus erfolgreich. Sein politisches Manifest veröffentlichte Obama unter dem Titel "The Audacity of Hope". Kühnheit und Hoffnung: klangvolle Worte, aber auch Eigenschaften, die dringend benötigt werden.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco. In der JF 4/08 nahm er den Vorwahlsieg von John McCain vorweg.

Foto: Obama vor Wall-Street-Gebäude: Absage an alte Marktlösungen

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