© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/08 29. Februar 2008

Diktat ohne moralisches Vernichtungsurteil
1918 schloß das Deutsche Reich mit der Sowjetunion den Frieden von Brest-Litowsk / Vergleiche zu Versailles 1919 hinken dennoch
Stefan Scheil

Derzeit ist in Deutschland wieder viel von Jahrestagen die Rede, vorwiegend von jenen, die sich zum fünfundsiebzigsten Mal nähern. Gleichzeitig wird häufig darauf verwiesen, die nationalsozialistische Revolution des Jahres 1933 sei ohne den Vertrag von Versailles schwer vorstellbar.

Nicht zuletzt die willkürliche Behandlung und moralische Abqualifizierung Deutschlands in diesem Pariser Vorort und in den Folgejahren legte die Axt an die Tragfähigkeit der innenpolitischen Ordnung in Deutschland, die ansonsten trotz der neugewonnenen republikanischen Verfassung überwiegend wie zu Kaisers Zeiten vor sich hintickte. Allerdings startete die Agitation, die einen Adolf Hitler ins Kanzleramt tragen sollte, nicht nur mit seiner Polemik gegen den Vertrag von Versailles allein, sondern mit einem Vergleich. Ein Jahr vor Versailles hatte das deutsche Kaiserreich selbst einen Frieden erzwungen, den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit der neugegründeten Sowjetunion. Auch er jährt sich in diesen Tagen, zum neunzigsten Mal.

Der künftige deutsche Kanzler und Diktator begann seine politische Laufbahn 1919 mit der Agitation für diesen Brest-Litowsker Vertrag und gegen die Versailler Regelungen. Die Inhalte machten es leicht möglich. Während sich die Alliierten in Versailles in einer Mammutkonferenz auf der Basis von "Alleinschuld" der Mittelmächte einen viele hundert Seiten langen Blankoscheck ausgestellt hatten, der nicht nur unbegrenzte finanzielle Forderungen an den geschlagenen Kriegsgegner möglich machte, sondern der künftigen Willkür und Demütigung Tür und Tor öffnete - bis hin selbst zur Grabsteinfarbe für deutsche Gefallene, denen "ehrenvolles" Weiß versagt wurde -, gehörte der Brest-Litowsker Vertrag noch einer anderen Generation von Friedensverträgen an.  

Das kam unter anderem daran zum Ausdruck, daß er wohl als letzter der großen Friedensverträge die bis dahin seit Jahrhunderten übliche gegenseitige Amnestieklausel der Kriegsgegner für begangene Straftaten enthielt. Die unerhörten Verwüstungen, die russische Truppen 1914 in Ostpreußen angerichtet hatten, blieben in der Nachkriegszeit ebenso ohne strafrechtliche Verfolgung wie irgend eine strafbare Handlung deutscher Truppen auf russischem Boden. Es wurde anerkannt, daß Kriegszeiten außerordentliche Taten auch im negativen Sinn hervorbringen können, ohne daß dies in moralische Vernichtungsurteile zu künftigem politischen Nutzen umgemünzt wurde. Wirklichen Frieden konnte es nicht ohne einen Schlußstrich geben, dessen war sich Europa seit dem Westfälischen Frieden von 1648 immer bewußt gewesen. Im finanziellen Bereich verblieb das Deutsche Reich gegenüber der UdSSR ebenfalls im Konventionellen. Man einigte sich auf einen bezahlbaren und begrenzten Betrag an Kriegsentschädigung, wie es seit jeher üblich gewesen war.

Dennoch geriet der Vertrag von Brest-Litowsk in einem Bereich revolutionär, und zwar bei seinen territorialen Regelungen. Er drängte Rußland aus Europa ab und schuf dabei die Grundlagen für die heute noch bestehende Grenzziehung. Länder wie die Ukraine, Weißrußland, das Baltikum, Finnland und Polen erhielten so etwas wie staatliche Strukturen. Genaue Bestimmungen über Grenzen und Verfassungen blieben einstweilen noch offen. Die bereits seit langem unter deutscher Vermittlung laufenden Verhandlungen zwischen Ukrainern, Polen, Litauern und dem 1914 auf zionistische Initiative in Berlin gegründeten Komitee zur Befreiung der russischen Juden samt seinen Nachfolgeorganisationen hatten hier unüberbrückbare Gegensätze offenbart.

Die acht Monate, die zwischen der Unterzeichnung des Vertrags von Brest-Litowsk und der Novemberrevolution von 1918 noch blieben, stellten nur einen historischen Wimpernschlag dar. Für diesen Moment schien es so, als könnte das deutsche Kaiserreich sich zu einer Weltmacht auswachsen, deren Hauptstadt nicht mehr von Truppen bedroht war, die nur wenige hundert Kilometer entfernt bereitstanden. Statt dessen stand in Osteuropa ein deutscher "Hinterhof" zur politischen und wirtschaftlichen Durchdringung in Aussicht, wie ihn etwa die USA in Lateinamerika besaßen. Als das politische System des deutschen Kaiserreichs zusammenbrach, war ganz Osteuropa inklusive der Ukraine von deutschen Truppen besetzt. Kurz zuvor hatte noch Georgien um die Aufnahme in den deutschen Reichsverband gebeten.

Mit dem November 1918 war dies alles insofern Geschichte, als es mit der deutschen Großmachtstellung schlagartig vorbei war. Die letztlich siegreichen Westmächte sicherten sich die große Kriegsbeute durch Beschlagnahme des deutschen Nationalvermögens, Erwerb der Kolonien und vor allem durch die Aufteilung des ölreichen und strategisch wichtigen Nahen Ostens.

An Osteuropa hatten sie nur insofern Interesse, als sich die dort neuerrichteten Staaten gegen Deutschland in Stellung bringen ließen. Was sich dafür innen- oder außenpolitisch nicht eignete, fiel unter den Tisch. Eine positive politische Vision für die osteuropäische Region war damit zwischen 1919 und 1939 nicht verbunden. Erst die Politik nach 1945 knüpfte an die Ansätze von Brest-Litowsk an, die 1989 schließlich gewissermaßen einen späten historischen Triumph feierten, als vom Baltikum über die Ukraine bis in den Kaukasus erneut unabhängige Staaten entstanden.

1919 blieb von den ein Jahr vorher vereinbarten Friedensregelungen zunächst lediglich die Gelegenheit zu reichlicher Polemik deutscher Nationalisten und Nationalsozialisten übrig. Noch Jahre später sah Hitler in seinen vergleichenden Reden über die Verträge von Versailles und Brest-Litowsk sein Hauptverdienst, da durch sie die Basis für die nationalsozialistische Bewegung gelegt worden sei. Auch dies gehört zur Vorgeschichte von 1933.

Foto: Unterzeichnung des Waffenstillstands von Brest-Litowsk im Dezember 1917, Beginn der dreimonatigen Vertragsverhandlungen: Wirklichen Frieden konnte es nicht ohne einen Schlußstrich geben

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