© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/08 29. Februar 2008

Barmherzige Kämpfer auf dem Rangierbahnhof
Der Politikwissenschaftler Jan Werner Müller traktiert den "an der Mosel geborenen" Carl Schmitt
von Günter Maschke

Dem toten Löwen einen Tritt zu versetzen und klüger zu sein als das verstorbene Genie, das ist der Ehrgeiz zahlloser Doktoranden und Habilitanden. Dazu werden zwei unterschiedliche, miteinander kombinierbare Verfahren angewandt. Der schlecht beleumdete Klassiker, den es natürlich zu widerlegen gilt, wird dämonisiert und/oder verharmlost.

Weil aber die Geschichte des politischen Denkens bereits einige Jahrtausende zählt, ist Carl Schmitt noch ein jugendfrischer, hyperaktiver Dämon und nicht von der Altersschwäche gezeichnet wie etwa die Schreckensgespenster Kautilya, Machiavelli, Hobbes und Pareto. Schmitt, der Gabriele d'Annunzio des Staatrechts, die Sphinx, der Pseudo-Katholik, der betrogene Betrüger, der Apokalyptiker der Gegenrevolution, der Schreibtischtäter, der Verführer des akademischen Nachwuchses, das Irrlicht, der politische Nihilist, der Totengräber der Weimarer Republik, der Kronjurist des Führers, der Steigbügelhalter, der Bewunderer Julius Streichers, der schlimmste aller Verbrecher, die fons et origo malorum Germanicorum - erschöpft halten wir auf dieser Eskalationsstufe inne -, ist freilich für alle Anständigen und Wohlmeinenden bereits dadurch gerichtet, daß sein Denken, nach einem beliebten, weil tantenhaften Ausdruck, "gefährlich" ist. Das meint auch Jan Werner Müller, früher als deutscher fellow in Oxford, mittlerweile in Princeton lehrend.

Müller, der sein Buch zunächst in englischer Sprache verfaßte, hält Schmitt für "einen gefährlichen Geist" ("a dangerous mind"), der in "gefährlichen Labyrinthen" ("dangerous labyrinths") zu Hause sei und der sogar seine Gegner zu "gefährlichen Beziehungen" ("dangerous liaisons") verleite. Da mag mancher hochmutige Schmittianer, seit Jahrzehnten derartiger Schnurrpfeifereien überdrüssig, Müllers Buch übereilt zuklappen. Dann entgeht ihm jedoch dessen letzter Satz, der von zwerchfellbedrohendem Humor zeugt: "So verkündet der Liberalismus das Verlangen, die Existenz mit dem Feind zu teilen und sich auf einen barmherzigen Kampf mit ihm einzulassen." ("Thus liberalism announces the desire to share existence and to engage in charitable struggle with the enemy.")

Zur Kommentierung dieser Behauptung sollte man diejenigen anhören, die die Segnungen des Liberalismus erfuhren und erfahren: die Neger auf den Sklavenschiffen der Freihandelsenthusiasten, die Opfer des britischen Imperialismus nicht nur in Irland oder Indien, die nordamerikanischen Indianer, die europäischen Bauern, die, landlos gemacht, zu Proletariern wurden oder als Arbeitslose in den Lichterstädten der herrschenden Philanthropen vegetierten, die Opfer des Diktats von Versailles und die der Bombennächte - oder endlich die heutigen Opfer der neoliberalen Globalisierung, die den schützenden Staat dementiert, den auf ungleichen Tausch beruhenden sogenannten freien Handel gewaltsam durchsetzt und die Demokratie (das Volk mit dem Knüttel des Volkes schlagen), sei es mit Streubomben, sei es mit "smart bombs", notfalls auch präemptiv herbeizwingen will,  im Vorgriff auf das Recht der uns endgültig befreienden Welteinheit. Das ist der mit dem Weltbürgerkrieg schwanger gehende Liberalismus von heute, der seine Ehrfurcht vor dem Eigentum auch gerne mittels des Raubes verdeutlicht. Doch was kümmert den Träumer Müller die imposante Blutspur des Liberalismus?

Freilich hat Schmitt "den" Liberalismus immer wieder der politischen Ohnmacht und Nullität bezichtigt, doch zielte er damit auf den Liberalismus der Weimarer Zeit, nicht auf den des angelsächsischen Imperialismus, den er ab 1932 kritisch analysierte. Den Liberalismus unseres Autors gibt es aber nicht einmal im weltweiten akademischen Kongreß-Nirwana à la Habermas, wo der humanitaristische Jet set seine gegen die Wirklichkeiten imprägnierten Diskurse abhält: Müllers Liberalismus ist nichts als das Gespenst der eigenen Hirnweberei.

Doch weil sich Müller seines Idyll-Liberalismus so sicher ist, kann er auch höflich bleiben. Wir sind bei ihm weit entfernt von den haßerfüllten Konvulsionen eines Helmut Ridder oder dem Gekeife eines Bernd Rüthers. Müller ist auch nicht so plump, um mit seinem Credo herauszuplatzen: Eigentlich ist die Wissenschaft nur wissenschaftlich, wenn sie liberal ist. Da sich dies ("die Anschlußfähigkeit an den internationalen Diskurs") von selbst versteht, muß es nicht unentwegt betont werden. Gerade deshalb sind viele Passagen seiner Schrift relativ sachliche Darstellungen der Gedankengänge Schmitts und einiger seiner engeren Schüler. So wird Schmitts Aktualität wie auch die Triftigkeit seiner Argumente immer wieder deutlich, das kommt davon, wenn man einen Polemiker, dem man sich überlegen wähnt, mit Glacéhandschuhen begreift!

Wenn Schmitt etwa erklärt, daß die Weltherrschaft nicht den Frieden bringe, sondern zu einer "Kombination von völkerrechtlichem Krieg und Bürgerkrieg" führen müsse, wenn er die Wiederkehr des gerechten Krieges (eher wohl: die des heiligen Krieges!) beklagt und zeigt, wie jedwede Moralisierung der Politik nur einen verschärften Terror entbindet, so wartet man auf das generöse "Ja, ist es denn nicht wahr, daß ... ?", mit dem Schmitts liberaler Biograph Paul Noack seine Überlegungen zu Schmitts Thesen eröffnete.

Doch Müller schweigt auch dann, wenn Schmitt die Bundesrepublik zu einem "Rangierbahnhof für Sonderinteressen" erklärt und zu einem bloßen "Funktionsmodus ohne Legitimität" oder wenn Forsthoff darlegt, daß das Grundgesetz in einem Augenblick völliger Ohnmacht und absoluter Unfähigkeit zu einer eigenen Entscheidung geschaffen worden sei und schon deshalb fragwürdig wäre. Denkt man an den größten Irrtum, vielleicht nicht Schmitts, aber einiger seiner Schüler, nämlich daß die Bundesrepublik, aufgrund ihres Souveränitätsdefekts und ihrer Unfähigkeit, den Ausnahmezustand zu exekutieren, nur von kurzer Lebensdauer sein könne, so ist man erstaunt, daß Müller sich auch hier jeder triumphalen Geste entschlägt und sich mehr oder minder mit einem Bericht begnügt.

Vielleicht ist das eine Art vornehmer angelsächsischer Unterkühlung, die sich Müller mittlerweile zuzog? Die Dämonisierung Schmitts einerseits, seine Verharmlosung andererseits, die darauf beruht, daß seine feinsinnigeren Gegner den Corpus seiner Lehre (deren Systematik stets unterschätzt wird) in konsumierbare Häppchen teilen - beide sind bei Müller nicht zu sistieren und doch stets als Hintergrund wirksam. Müller ist zwar ein Liebhaber des intellektuellen Mainstream, doch ein vorsichtiger und gut erzogener.

Mit entsprechend zurückhaltendem  Wohlgefallen betrachtet Müller denn auch alle Bestrebungen, Schmitts Ideen zu entschärfen, indem man sie partiell nutzt - freilich zu alles anderem als zu einer Entschärfung. Mit Schmitt soll die Demokratie (der Rangierbahnhof) wehrhaft werden, etwa wie das auch Hermann Lübbe, der Troubadour einer liberalen Schmitt-Rezeption, vorschlug. Dies führt gelegentlich zu dem verblüffenden Ergebnis, daß Feinde des bundesrepublikanischen Systems sich als Feinde Schmitts gerieren. Der Rechtsstaat Bundesrepublik (der Rangierbahnhof) soll sich mittels einer ausgefeilten Ideologie, Ausnahmezustandsgesetzgebung und so weiter gegen seine Feinde (zum Beispiel die "Haltungs-Schmittianer") panzern, ein Konzept, das inzwischen in die Hände von Otto Depenheuer (vergleiche dessen Buch "Selbstbehauptung des Rechtsstaats", 2007) geriet und definitive Form gewann: Der Prophet Wolfgang Schäubles ist bereits unter uns und wir haben ihn noch nicht erkannt! Der teilschmittianisierte Richter wirft den Haltungs-Schmittianer ins Loch, eine Pointe, auf deren Erörterung Müller leider verzichtet und die wohl im schärfsten Gegensatz zu seiner Feier eines "barmherzigen Kampfes" steht.

Trotz des Untertitels steht die deutsche Schmitt-Rezeption nach 1945 ganz im Zentrum von Müllers Buch. So widmet er sich Rüdiger Altmann, Ernst Wolfgang Böckenförde, Hanno Kesting, Reinhart Koselleck, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Helmut Schelsky oder Nicolaus Sombart. Im Grunde sind diese Passagen jedoch kaum mehr als eine verwaschene Fortsetzung von Dirk van Laaks "Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik" (1993). Ein deutscher Leser, der zu Müllers Buch greift, wird sich also der Langeweile erwehren können. Müllers Fehler war es, sein ganz für englischsprachige Leser zugeschnittenes Buch eins zu eins übersetzen zu lassen, anstatt es gründlich umzuarbeiten. Die deutsche Fassung ist nicht nur gelegentlich etwas holprig, sie enthält auch einige weichzeichnerhafte Distanzierungen im Sinne der Political Correctness, die in der Originalausgabe erfreulicherweise fehlen. Aus "Nomos was replaced by nihilism" - das ist für Schmitt das Resultat der Zerstörung der Verbindung von Ordnung und Ortung -  wird dann: "Statt eines ursprünglichen, sinnvollen Nomos fand sich laut Schmitt nun reiner Nihilismus." Die Zahl solcher Abweichungen ist beträchtlich.

Müller hat leider auch die Zeitspanne zwischen beiden Veröffentlichungen nicht genutzt, um sachliche Fehler auszumerzen. So erfahren wir von ihm, daß Schmitt "1888 an der Mosel geboren" sei ("He was born in the Mosel region of Germany 1888"); daß Schmitt die Bücher von Hanno Kesting ("Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg", 1959) und Reinhart Koselleck ("Kritik und Krise", 1959) als Anonymus begeistert besprochen habe - er rezensierte jedoch nur das Werk Kosellecks und zeichnete mit seinem vollen Namen (vergleiche "Das Historisch Politische Buch", 1959, Seite 301ff.); daß Günter Maschke der "Schwager der Schwester von Gudrun Ensslin" gewesen sei, er war aber deren Schwager. Derartige Beispiele ließen sich vermehren. Gewiß, kein Buch mit einem so komplexen Gegenstand ist ohne Fehler, doch was soll man davon halten, kennt ein Autor nicht einmal den Geburtsort der von ihm dargestellten Person? Im Gegensatz zum englischen Verlag hat der deutsche darauf verzichtet, dem Buch  ein Register beizugeben, was schlichtweg unverzeihlich ist.

"Kann ein 'post-heroisches' Zeitalter neue, supranationale Identitäten ohne Feindschaft oder gar ohne eine Form der Homogenität bewirken? Können multiple, sich überlappende Loyalitäten ein Minimum an Stabilität erreichen, oder werden sie angesichts des ultimativen Zwangs zusammenbrechen, sich zwischen Freund und Feind entscheiden zu müssen? Ist ein Gesellschaftsvertrag oder eine 'Schicksalsgemeinschaft' vorstellbar, die nicht den Tod einschließt?" Müller hält es für möglich, daß diese Fragen "Schmitts letzte Herausforderung an die philosophischen Liberalen" sein könnten. Tatsächlich sind dies aber suggestive Fragen, die Müller in seinem so festen wie rührend naiven Glauben als bloß rhetorische stellt. Er fragt und fragt überhaupt gerne, doch die entscheidende Frage verkneift er sich, obwohl oder weil er in Princeton/USA sitzt: Wie denn  im Lichte von Schmitts Schriften die heutige Kriegs- und Völkerrechtspolitik der Vereinigten Staaten zu sehen sei? Wir müssen vermuten, daß sein Ideal das zivilisatorische Hexagon Europas bleibt (mag es auch noch an kleinen Mängeln laborieren): Kündigt es nicht die Trocknung beinahe aller Tränen an und genießen hier nicht bald, so wir nur wachsam und wehrhaft bleiben, die letzten Menschen ihr Blinzeln? Hegel meinte einmal, daß das Geschwätz verstummen würde vor den ernsten Wiederholungen der Geschichte. Denkste!

Jan Werner Müller: A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought. Yale University Press, New Haven & London 2003, gebunden, XI und 292 Seiten, 34,50 Euro

Ders.: Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa. Aus dem Englischen übersetzt von Nikolaus de Palézieux. Mit einem Vorwort von Michael Stolleis. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, gebunden, 300 Seiten, 39,90 Euro

Foto: Carl Schmitt (1888-1985): Jugendfrischer, hyperaktiver Dämon mit "gefährlichem" Geist, in "gefährlichen Labyrinthen" zu Hause

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