© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/08 29. Februar 2008

Jens Jessen in uns
Identität & Integration: Liberale Gesellschaften lösen den Einzelnen aus seinen Bindungen / Sechste Folge
Michael Böhm

Jedes Land bekommt nicht nur die Regierung, sondern auch die Einwanderer, die es verdient. Es hat auch prügelnde, stehlende und mit Rauschgift handelnde junge Leute bekommen: Einwandererkinder der sogenannten dritten Generation, zumeist 14- bis 20jährige, zumeist arabischer oder türkischer Herkunft, zumeist Jungen. In der Schule versagen sie schon früh, ihr Deutsch wird auch im Erwachsenenalter recht dürftig sein, und ihre Aussichten auf berufliche Ausbildung oder vernünftig bezahlte Arbeit bleiben äußerst gering.

Diese jugendlichen Delinquenzkarrieristen gehen aber auf unsere Kappe - und mit ihnen sämtliche Parallelgesellschaften, die in diesem Lande bereits existieren: die mehrheitlich arabisch oder türkisch bewohnten Straßenzüge in Berlin-Neukölln, die Vielzahl kleiner oder großer Moscheen mit ihren mehr oder weniger lauten Haßpredigern, die Summe all jener Familien schließlich, in denen Hijab oder Burka die Alltagskleidung von Frauen ist und Töchter "zwangsverheiratet" und bei "ehrenrührigem" Verhalten verstoßen oder sogar umgebracht werden.

Dieses gesamte morgenländische Ambiente haben wir in Deutschland mitgeschaffen - auch diejenigen, die es eigentlich nicht wollten. Der altlinke Schriftsteller Peter Schneider sprach von einer "aktiven Verweigerungshaltung eines Teils der Muslime", sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Und genau diese Verweigerungshaltung ist unser aller Werk - trotz der Heere von emsigen Migrationsforschern und betulichen Sozialarbeitern.

Natürlich, die Integration der muslimischen Einwanderer in Deutschland ist gescheitert. Aber - ist sie überhaupt möglich? Nicht nur die Debatte über die sogenannte Leitkultur zeigt, daß kaum mehr Einigkeit darüber besteht, worin man sich eigentlich integrieren soll (siehe JF 9/08). Auch mehren sich die Stimmen, die beklagen, daß sie offenkundig in der Krise steckt: daß radikaler Individualismus und Lust- und Konsumprinzip den gesellschaftlichen Zusammenhang untergraben hätten und es allerorten Bindungslosigkeit gebe: zu sehen an einer vereinsamenden überalterten Gesellschaft ohne Kinder, zu sehen an einem flexiblen "Werterelativismus", der keine allgemeine Gültigkeit beansprucht, und zu sehen nicht zuletzt an der wachsenden Verarmung weiter Teile der Bevölkerung - ob nun geistig-intellektuell oder einfach materiell. Von abnehmender Vitalität ist die Rede, ja vom Versiegen des kulturellen Kraftfeldes schlechthin.

Hand aufs Herz: Hätten junge Muslime angesichts dessen überhaupt ein Interesse, sich zu integrieren, dort, wo Desintegration immer mehr die Regel zu sein scheint? Zumal sie aus Gesellschaften kommen, deren kulturelle Fundamente noch intakt sind, zwar in ihren archaischen Manifestationen befremdlich für uns, doch in jedem Fall kraftvoll und lebendig. Und vor allem: Sollten sie sich integrieren, da sie in wenigen Jahrzehnten keine Minderheit mehr darstellen werden?

Man sollte sich nichts vormachen. Unter diesen Umständen wird keine Integration erfolgen und mehr noch: Sie war niemals wirklich möglich. Der Beweis sind prügelnde Jugendgangs und lebendige Parallelgesellschaften, denn sie sind keineswegs über Nacht entstanden. Auch für sie waren langfristig kulturelle Orientierungen ausschlaggebend, die vermittelt und vorgelebt worden sind. Die "Verweigerungshaltung" dürfte insofern latent gewesen sein - auch in der ersten und der zweiten Generation der Einwanderer.

Hingegen sind muslimische Immigranten, die heute in der gesellschaftlichen Mitte oder gar an ihrer Spitze stehen, eher westlich geprägt, und das bedeutet mehr assimiliert denn integriert. Der in Deutschland geborene Cem Özdemir etwa zählt sich zur "großen Gruppe" der "kulturellen Muslime", was er auch immer damit meint. Er spricht schlecht Türkisch und nimmt an keiner Fastenzeit teil. Ebenso pflegt der deutsch-türkische Schriftsteller Zafer Senocak einen westlichen Lebensstil und warnt vor Muslimen, die die Moderne "unterwandern" und ihre eigene Tradition "nicht hinterfragen". Und auch die in der Türkei geborene Necla Kelek, Autorin des Buches "Die fremde Braut", ist in ihrer scharfen Kritik am Islam eine Apologetin westlicher Freiheit geworden. Das ist die Realität, der sich muslimische Einwanderer stellen müssen: Assimilation in eine schwache, vielleicht sogar aussterbende Kultur oder der Verbleib in traditionellen, aber vitalen Lebensformen.

Und das ist letztendlich auch das Integrationshemmnis aller liberalen Gesellschaften. Denn ihr Grundgedanke, die individuelle Freiheit, zielt ja gerade darauf ab, den Einzelnen aus seinen traditionellen und gemeinschaftlichen Bindungen zu befreien - geleitet von einer als universal angesehenen Grundsatzvernunft, die einem jeden eigen sei und die doch nichts anderes bedeutet, als seinen eigenen Vorteil zu suchen.

In seiner "Deontology" hatte es 1834 der liberale Philosoph Jeremy Bentham als moralisch legitim erachtet, vor allem nach dem eigenen Glück zu streben. Er widersprach damit der verbreiteten Auffassung, wonach das Eigeninteresse der Moral zu opfern sei. Fast 40 Jahre zuvor hatte Immanuel Kant den Gedanken formuliert, eine solche vernunftgeleitete "Maxime" solle "allgemeines Gesetz" werden.

Heute führt man Kriege im Namen individueller und universaler Menschenrechte, und man führt sie klar erkennbar um wirtschaftliche Interessen; mit dem selben moralischen Pathos fordern westliche Politiker und Nichtregierungsorganisationen, daß sich "archaische" Gesellschaften von ihren Traditionen befreien mögen. Auch wir haben uns davon befreit, in einem langen historischen Prozeß und mit seinen politischen und wirtschaftlichen Vehikeln - wir tun es immer noch. "Seit der Aufklärung", schrieb der 1925 in Posen geborene, später in Warschau und Leeds lehrende jüdische Soziologe Zygmunt Bauman einmal, "gilt es als eine dem gesunden Menschenverstand unmittelbar einleuchtende Wahrheit, daß die menschliche Emanzipation, die Freisetzung des echten menschlichen Potentials es erforderlich mache, die Fesseln der Gemeinschaft  zu zerreißen und Individuen aus den Umständen ihrer Geburt zu befreien."

Aber - wird das auch in Zukunft noch der Fall sein? Assimilation von starken Gruppenidentitäten in eine atomisierte, individualistische Gesellschaft, die sich selbst immer ungewisser wird? Es dürfte schwer werden, und vor allem dürfte es nicht ohne massive Konflikte abgehen, nicht ohne jene Parallelgesellschaften, die sich schon jetzt zur Übernahme wappnen. Denn wir haben offenbar nichts mehr anderes zu bieten als eine marktvermittelte Kultur, in der nichts mehr wert ist, aber alles seinen Preis hat. Auch die Zivilcourage hat ihn mittlerweile. Aber wer ist schon bereit, ihn zu zahlen? Der Überfall in der Münchner U-Bahn belegt es deutlich.

Noch vor hundert Jahren hätte sich so mancher in einem Duell in Todesgefahr begeben, nach einem ehrverletzenden Angriff auf seine Person oder die seiner Schutzbefohlenen. Die Gründe zu leben und zu sterben wären für ihn dieselben gewesen: der gemeinschaftlichen Existenz etwas zu geben und sie mit sittlichem Verhalten anzureichern. Heute schaffen es nicht einmal 15 bis 20 Fahrgäste, einem alten wehrlosen Mann gegen zwei jugendliche Rüpel beizustehen. Denn die individualistische und utilitaristische Bürgermoral zielt letztendlich nur darauf ab, der Existenz etwas zu entnehmen und die eigene anzureichern. Und da stört natürlich der Gedanke einer möglichen körperlichen Verletzung oder gar der an den Tod. Wir empören uns zwar lauthals ob der infamen Äußerungen eines Jens Jessen - aber ein Stück von ihm ist wohl in jedem von uns.

Freilich, wir haben noch wachsenden Reichtum und wir haben noch die modernsten Technologien - selbst wenn sie immer weniger Menschen zugute kommen. Sie sind ihrerseits Produkte jener Freiheit, die sich nun erschöpft und ungeschminkt zeigt wie nach einer rauschenden, durchzechten Nacht. Aber reicht das? Gibt es nicht bereits Konvertiten unter uns, die der müde gewordenen Kultur des Westens die unbändige Kraft orientalischer Dogmen vorziehen?

Es hilft wohl nichts, darüber hinwegzusehen: Wir sind schwach geworden, einer orthodoxen, militanten Kultur psychisch und mental unterlegen. Wir, der Westen, haben den Preis des Liberalismus gezahlt - auch angesichts der Immigration erweist er sich nun als ein ungedeckter Scheck.

Bisher erschienen in dieser Reihe Beiträge von Götz Kubitschek ("Herr im Eigenen", JF 5/08), Karlheinz Weißmann ("Mit Worten müssen wir uns wehren", JF 6/08), Martin Lichtmesz ("Deutscher Paß, türkisches Herz", JF 7/08), Robert Hepp ("Deutschland den Deutschländern?", JF 8/08) und Fabian Schmidt-Ahmad ("Die Schwärmerei vom großen Nichts", JF 9/08). Die Debatte wird fortgesetzt.

Foto: Francisco de Goya, "Weil sie liberal war", Tagebuch-Album (1803-1824): Der Preis der Freiheit kann tödlich sein

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