© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/08 22. Februar 2008

"Fundamentale Ambivalenzen"
Das Beispiel der Bonner Universität: Die Rolle der medizinischen Wissenschaft im NS-Staat
Rolf Duske

Unter den Akademikern erntete die NSDAP nirgends sonst soviel Zuspruch wie bei den Medizinern. Die Hälfte der deutschen Ärzte war "in der Partei". Das Einverständnis ergab sich bereits vor 1933 zwanglos aus der nationalsozialistische Ideologen und Mediziner gleichermaßen faszinierenden sozialpolitischen Utopie des "gesunden Volkskörpers". Daß dabei mit den Krankheiten auch die Kranken "abgeschafft" werden sollten, zeitigte Konsequenzen, die nach 1945 als "Medizin ohne Menschlichkeit" (Alexander Mitscherlich) strafrechtlich sanktioniert wurden.

Doch ungeachtet des Nürnberger "Ärzte-Prozesses" (1948) und einiger Verfahren, die sich bis in die siebziger Jahre gegen Beteiligte an "NS-Medizinverbrechen" - an der Ermordung von Patienten in Heilanstalten ("Euthanasie") oder an "Menschenversuchen" in Konzentrationslagern - richteten, blieb der Halbgötter-Nimbus der Ärzteschaft insgesamt unbeschädigt, da man die "Verstrickung" auf "Kollegen" wie den hinlänglich dämonisierten Josef Mengele und ein paar andere Schurkengestalten abzuwälzen wußte.

Das änderte sich in Maßen erst, als nach 1980 publizistisch geschickt agierende Journalisten wie Ernst Klee und Götz Aly moralisch auftrumpfend die "Aufarbeitung" ärztlicher "Schuld" einklagten. Tatsächlich ist seitdem eine stetig wachsende Zahl von Monographien und Aufsätzen zum Thema "Medizin im Nationalsozialismus" zu registrieren. Die erdrückende Masse von Veröffentlichungen ist heute kaum noch zu überblicken, vermag aber in Fragestellungen, Methode und Forschungsresultaten mittlerweile nur noch eingefahrene Schemata zu bestätigen.

So auch die Dissertation des FAZ-Mitarbeiters Ralf Forsbach über "Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im 'Dritten Reich'". Wie ähnlich opulente Werke zur Geschichte der Medizinischen Fakultäten in Freiburg und Marburg, wie die bescheideneren Versuche über Jena, Hamburg oder Göttingen, verfährt Forsbach nach vertrautem Muster. Also fragt er nach der Beteiligung der einzelnen medizinischen Disziplinen am "rassistischen" gesellschaftspolitischen Projekt des Nationalsozialismus, nach ihrem Beitrag zur Verwirklichung von "Antisemitismus, Biologismus, Sozialdarwinismus, Rassenhygiene und Eugenik". Wie üblich sind die am stärksten involvierten Fächer schnell identifiziert: Psychiatrie, Gynäkologie, Chirurgie, Gerichtsmedizin, Kinderheilkunde. Hier seien die Kliniken zu "Tatorten", ihre Chefs und ein Gutteil der Ärzte zu "Tätern" geworden.

Bei den Psychiatern macht Forsbach mit Kurt Pohlisch und Friedrich Panse zwei "T 4-Gutachter" aus, die sich unter diesem Tarnnamen ab 1939 in den Dienst der "Aussonderung" von "Ballastexistenzen" in den Heil- und Pflegeanstalten der Rheinprovinz stellten. Gynäkologen und Chirurgen nahmen seit 1934 die aufgrund des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verfügten Sterilisationen und Kastrationen vor. Der Gerichtsmediziner Gerhard Panning, als Gutachter in Bromberg und Umgebung nach dem von Polen verübten Massenmord an Volksdeutschen wie bei der Exhumierung von Opfern stalinistischer Verbrechen in Katyn und Winniza tätig, experimentierte mit jüdischen KZ-Häftlingen, um die Folgen von Schußverletzungen zu erforschen. Der makabre "Kampf um die Leichen" jedoch, den Forsbach den Anatomen anlastet, setzte nicht erst infolge der "großzügigen" Hinrichtungspraxis der NS-Justiz ein, sondern er begleitet dieses Fach seit den Anfängen anatomischer Forschung im 15. Jahrhundert.

Für die im Kapitel "Mißbrauch der Medizin" sowie - wesentlich auf den Pharmakologen Werner Schulemann beschränkt - für die sich auf die "Kriegsforschung" erstreckende, insgesamt nicht sehr signifikante Bonner "Mittäterschaft" erübrigt Forsbach allerdings nur ein Sechstel des Textes. Wissenschaftliche Publikationen seiner Probanden, andere ihrer Schwerpunktbildungen in der Forschung, die man etwa an Themen der bei ihnen angefertigten Dissertationen ablesen könnte, ihr auf ein breites Publikum der "Volksgenossen" berechnetes sonstiges Schrifttum - dies alles ignoriert Forsbach.

Den Löwenanteil beanspruchen bei ihm nicht solche Inhalte, nicht der Alltag von Forschung und Lehre, sondern die Personen und Institutionen. Einschließlich der "Politik der Säuberung", der in diesem Kapitel detailliert geschilderten rassisch oder politisch motivierten Entlassungen sowie der Emigrationsschicksale, widmet er den Personalia stolze 400 Seiten. Keine Parteimitgliedschaft, keine Intrige, kein Konflikt in den Instituten und in der Fakultät bleibt unbeachtet, nicht einmal - und dies ist unter datenschutzrechtlichen Aspekt nicht unbedenklich - die Ehefrauen mitsamt der damals auch in Akademikerehen noch überaus zahlreichen Kinder und deren korrekten Geburtsdaten.

Was uns Forsbach mit diesem Informationswust, seinen den Haupttext mitunter vollständig verdrängenden Anmerkungsblöcken sagen will, erschließt sich nicht von selbst. Erst in der Zusammenfassung erfährt der Leser, wie er sortieren soll: "Im Kern hat sich an dem schon vor Jahrzehnten gezeichneten, vor allem durch die Einzelstudien über Hamburg und Marburg bestätigten, vielfältigen Bild nichts geändert. An der 'Konstatierung fundamentaler Ambivalenzen' führt bei einem Gebilde wie einer Fakultät mit ihren teilweise hochspezialisierten Wissenschaftlern kein Weg vorbei." So möge man die von Forsbach unermüdlich aus den Akten zitierten widersprüchlichen Verhaltensweisen als überbordend materialreiche Bekräftigung des wissenschaftshistorisch längst Bekannten auffassen. Mitunter freilich stehen sie wie im Fall des Hirnforschers Walter Poppelreuter, den er als "wilden Nazi" präsentiert, um in der Anmerkung auf die lange SPD-Mitgliedschaft vor 1933 hinzuweisen, völlig unvermittelt nebeneinander.

Der Lesbarkeit, wenn man überhaupt davon reden darf, wäre dabei sehr zugute gekommen, wenn Forsbach seine Mediziner-Biographien nicht in den Anmerkungen, sondern in einem Anhang untergebracht hätte. Wenigstens aber im Register hätte im Fettdruck markiert werden müssen, auf welcher der Seiten sich die jeweilige Biographie in der Anmerkung versteckt. Für manche Kuriosa, die der auf politische Korrektheit bedachte Autor unfreiwillig produziert, ist man hingegen dankbar. Es sind, wie die Bemerkung über den Dermatologen Erich Hoffmann, er sei "national gesinnt" und "doch reisefreudig" gewesen, seltene Oasen der Heiterkeit in dieser Datenwüste.

Fotos: Prozeß gegen die Gattin des ehemaligen Euthanasie-Arztes Professor Werner Heyde wegen erschlichener Pensionsleistungen, München 1961: Auf ein paar andere Schurkengestalten abwälzen, Hauptgebäude der Universität Bonn: Besonders die medizinischen Disziplinen waren im gesellschaftspolitischen NS-Projekt verstrickt

Ralf Forsbach: Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im "Dritten Reich". Oldenbourg Verlag, München 2007, gebunden, 767 Seiten, 49,80 Euro

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