© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/08 15. Februar 2008

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Inkonsistenzen
Karl Heinzen

Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury und zugleich Oberhaupt der anglikanischen Kirche, hat in einem Interview mit dem BBC-Hörfunk seine Landsleute dazu aufgerufen, eine neue Form des Miteinanders mit der etwa 1,7 Millionen Köpfe zählenden muslimischen Minderheit in Großbritannien zu suchen. Bislang hätten sich die Integrationsbemühungen der Mehrheitsgesellschaft in kompromißlosem Schematismus erschöpft. Die Muslime würden bloß vor die Wahl gestellt, entweder an ihren kulturellen und religiösen Überlieferungen festzuhalten oder aber loyale Staatsbürger des Vereinigten Königreiches zu werden. Beide Alternativen seien jedoch sehr wohl vereinbar, und daher grenze man ohne Not eine große Zahl von Mitbürgern aus.

Insbesondere, so der Erzbischof, sei darüber nachzudenken, ob man nicht auch die Scharia wenigstens in wesentlichen Teilen als eine gleichberechtigte Rechtsordnung neben der bereits bestehenden einführen solle. Muslimen bliebe so ein Gewissenskonflikt erspart, da sie nicht mehr gezwungen wären, Werte und Normen als bindend anzuerkennen, die ihren religiösen Empfindungen zuwiderlaufen. Durch eine simple Willensäußerung, wie sie einem mündigen Staatsbürger ja auch zusteht, könnten sie ausschließen, fortan durch das traditionelle britische Recht in ihrer Lebenssphäre behelligt zu werden.

Rowan Williams hat lediglich eine Anregung geben wollen, und daher sind ihm die Inkonsistenzen, die sein Vorstoß aufweist, nachzusehen. Problematisch ist sicherlich, daß er der Scharia nicht bedingungslos Geltung verschaffen möchte, sondern lediglich jene ihrer Normen zulassen will, die als genehm erscheinen. Wer soll aber darüber die Entscheidung treffen, was akzeptiert werden kann und was nicht? Hier hallt doch noch in sehr bedenklicher Weise die Vorstellung einer bornierten Leitkultur nach, die keine ebenbürtigen Wertvorstellungen neben sich dulden will, obwohl sich diese längst auf ihrem vermeintlich angestammten Terrain festgesetzt haben.

Vor allem aber ist Williams vorzuhalten, daß er den demographischen Faktor völlig ausblendet. Wer heute noch auf dem hohen Roß der Mehrheitsgesellschaft sitzt und meint, einer Minderheit großmütig Rechte zugestehen zu dürfen, sollte erkennen, daß sich die Rollen noch zu Lebzeiten der gegenwärtig jungen Menschen vertauschen werden. Die Frage lautet daher nicht, inwiefern der Scharia schon heute Geltung verschafft werden sollte, sondern wieviel von der bisherigen Rechtsordnung bleiben wird.

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