© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/08 15. Februar 2008

"Man sieht den Korken tanzen"
Zweierlei Todestage: Was Ernst Jünger mit dem Humoristen Wilhelm Busch verbindet
Ulrich Beer

Bildung, hat Thomas Mann einmal gesagt, kann man nicht erwerben, man atmet sie ein. Das gilt zumindest für die Klassiker der Literatur, und es gilt auch im Elternhaus Ernst Jüngers. Aber zu den Klassikern, die man gleichsam einatmet, gehört in jedem, zumal norddeutschen, Elternhaus neben Goethe und Schiller natürlich auch Wilhelm Busch: "Die Lust zu zitieren, zu Anfang des Jahrhunderts noch sehr lebendig, schwächt sich ab. Wie meiner Mutter der 'Faust', meinem Vater der 'Wallenstein' geläufig waren und wie Verse von Wilhelm Busch bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihre Wirkung nicht verfehlten ..." (Siebzig verweht IV, 22. April 1986).

Ernst Jünger (1895-1998) zitiert Wilhelm Busch (1832-1908) in seinem Werk nicht besonders häufig. Er setzt ihn einfach als bekannt voraus, so erwähnt er ihn, wie man einen guten alten Bekannten erwähnt. Mehr noch: Er solidarisiert sich mit ihm. Das gilt in dreierlei Hinsicht.

Zum einen fühlt er sich mit Wilhelm Busch als Niedersachse verbunden. Wer daran zweifelte, etwa weil Jünger in Heidelberg geboren ist und die meiste Zeit seines Lebens irgendwo in der Welt und die letzten fünfzig Jahre in Süddeutschland verbracht hat, den klärt er in einem Satz gleichzeitig über seine Herkunft und Heimat sowie seine Zugehörigkeit zu Wilhelm Busch auf: "Was sich hinter seiner Komik verbirgt, verstehen im Grunde wir Niedersachsen nur" - so unter dem 12. März 1982 an den Autor dieser Zeilen, der selbst Niedersachse ist.

Tatsächlich sind Wiedensahl, der Geburtsort Wilhelm Buschs, und Stadt Rehburg, wo Ernst Jünger die wichtigsten Jugendjahre verbrachte, kaum mehr als einen Steinwurf voneinander entfernt.

Worin der Verständnisschlüssel des Niedersachsen für das Werk Wilhelm Buschs und speziell seine Komik besteht, kann nur erspürt oder spekuliert werden. Feststeht, daß Busch-Texte in Norddeutschland mehr zu Hause sind, bei Lesungen leichter ankommen und auswendig gewußt werden, also zum eingeatmeten Bildungsgut gehören. Soviel zu der einen großen und tiefen Gemeinsamkeit der rational kaum faßbaren Herkunft aus der gleichen Stammeswurzel. Blut-und-Boden-Ideologien lagen Jünger erklärtermaßen fern, aber kultur- wie naturgeschichtliche Schnittmengen können eine Verständnisbasis bilden, die den Zugang erleichtert und bei der Lektüre Widerhall aufklingen läßt.

Dies gilt nun - zum zweiten - für die zwei archetypischen Gestalten, die Wilhelm Busch berühmt gemacht haben und heute - nach über hundert Jahren - geradezu synonymisch mit ihm identifiziert werden - in einem Maße, das die übrigen Werke des großen Humoristen in den Schatten gestellt hat und den meisten unbekannt bleiben ließ. Dies gilt für das gute Dutzend Bildergeschichten, noch mehr aber für die Lyrik und die literarischen Kabinettstückchen, in denen narrativ verschlüsselt seine Lebensphilosophie enthalten ist. Nun, zuerst fällt - oder fallen? - einem zu Wilhelm Busch meistens "Max und Moritz" ein. Dieses Numerusproblem hat übrigens auch Ernst Jünger beschäftigt: "Max oder Moritz hat die Tat verübt - aber Max und Moritz haben etwas damit zu tun" (Siebzig verweht IV, 17. Januar 1988).

Ist es allzu kühn, das Lausbubenpaar mit den Dichterdioskuren in Vergleich zu setzen? Als der Autor dieser Zeilen seinen Festvortrag zum 100. Geburtstag Jüngers in der "lieben alten Heimat Stadt Rehburg" vorbereitete, bat er den Jubilar um eine Grußwort, das er handschriftlich unter dem 4. Februar 1995 erhielt. Schon im zweiten Satz heißt es darin: "Viele schöne Erinnerungen verbinden mich mit ihr, denen ich im Alter immer wieder gern nachhänge. Wie viele Buben-Abenteuer habe ich dort mit meinen Geschwistern, besonders meinem Bruder Friedrich Georg und unseren Kameraden unternommen und Eindrücke fürs Leben bewahrt."

Er spricht von "Buben-Abenteuern" und hätte auch von Lausbubenstreichen sprechen können, aber dieses Wort ist - wohl mehr von Ludwig Thomas "Lausbubengeschichten" geprägt - eher in Süddeutschland zu Hause. Dabei kann man sich die Rehburger Knaben Ernst und Friedrich Georg gut als ein Lausbubenpaar vorstellen. Beide schildern in ihren Kindheitserinnerungen eine Vielzahl von Abenteuern und Streichen, die sie vor allem zu zweit verübt haben. Die Freundschaft der Brüder war so "dicke" und hielt ja auch lebenslang, daß man sie gelegentlich geradezu als Einheit betrachten kann. Kein Wunder, daß Jünger auch Max und Moritz als kollektive Einheit betrachtet und auch als Subjektsingular verwendet. Es lohnt sich also, über die Typologie des Lausbubenpaares nachzudenken.

Ein Lausbub ist ein solcher in der Bewertung seiner Umwelt, er würde nie von sich selber sagen, daß er ein Lausbub ist, sondern das sagen die anderen - vielleicht wenn er einen Streich verübt hat oder auch sonst ein bißchen frech ist. Manchmal schwingt in den Umwelturteilen aber auch Sympathie und Bewunderung und vielleicht sogar Neid mit. Es also ist kein richtiges Schimpfwort, und es ist erst recht kein von dem Jungen selbst sich zugesprochenes Prädikat.

Wilhelm Busch war in seiner Kindheit alles andere als ein Lausbub. Er war ein braver, wohlerzogener, strebsamer Jüngling, und er hat sich gehütet, irgendwelche Streiche zu verüben. Einzig ist bekannt, daß er einmal mit einem Freund zusammen - der aber dabei wohl der Anführer war - einen großen Schlüssel, der innen hohl war, mit Pulver gefüllt, vorne wieder zugemacht und dann das Ganze so im Kreis geschlagen hat, daß es einen fürchterlichen Krach gab. Dummerweise hatte er das Pulver dazu dem Vater entwendet, der das in einer Tonkruke auf dem Dachboden stehen hatte. Dafür bekam er dann allerdings auch Prügel vom Vater.

Worin steckt aber der Wert von Max und Moritz? Nicht in den nachvollziehbaren, konkreten Handlungen, sondern er steckt in dem deutlich gemachten Konflikt zwischen einer im Grunde nicht kompetenten und zur Erziehung reifen Erwachsenengeneration und einer Jugend, die nicht frei aufwachsen darf. Daß sich Jugend später tatsächlich befreit hat, ist nun nicht nur das Verdienst von Wilhelm Busch, aber er hat die Initialzündung dazu gelegt, und insofern ist es ein klassisches Werk - nicht nur für Ernst Jünger.

Der Lausbub wendet sich gegen Autoritäten, die sich anmaßen, Autorität zu sein und die keine wirkliche Autorität sind. Bei Wilhelm Busch ist deutlich, daß das alles ganz biedere Erwachsene sind und im Fall des Lehrer Lämpel ganz unschuldige: Er hat Freude an der Musik, am Orgelspiel und am harmlosen Pfeiferauchen. Damit erweist er sich zwar nicht als besondere Autorität, aber auch nicht als das Gegenteil. Hier werden also auch Unschuldige getroffen, das macht es besonders bedenkenswert, aber im ganzen läßt sich sagen, daß der Lausbub sein Recht beansprucht, allerdings nicht immer mit den dafür geeigneten Mitteln, sondern daß er prinzipiell über das Ziel hinausschießt.

Jünger setzt sich mit den neuerdings verstärkt auftretenden Bestrebungen auseinander, Kinderbücher von Grausamkeiten zu bereinigen - zu purifizieren, wie er sagt. Natürlich lehnt er diesen Unsinn ab, der sich später nur rächen kann: "Den Kindern sollen der Wolf, dem der Bauch aufgeschnitten wird, und Blaubarts Kammer, selbst Max und Moritz erspart bleiben. Ein pädagogischer Fehlschluß - er hat Bumerangeffekt. Die Welt wird von Anfang an so gut und so langweilig. Aber der Traum und damit das Märchen, dringen in Tiefen, in denen sich archaische Gelüste befriedigen. Das wirkt als Schutzimpfung" (Siebzig verweht III, 20. Mai 1984). Daß Jünger das Wort "Schutzimpfung" verwendet, ist einer der genialen aphoristischen Schnellschüsse, von dem Busch sicher gern Gebrauch gemacht hätte, wenn er darauf gekommen oder wenn der Begriff damals schon geläufig gewesen wäre.

Daß ein Schriftsteller ungehindert geradlinig sich zu Erfolg und Ruhm schreibt, ist sicher die Ausnahme. Auch hier kann sich Ernst Jünger mit Busch solidarisieren. Das beginnt schon bei den Kleinigkeiten, bei der bekannten "Tücke des Objekts": "Ich hatte wieder Ärger mit dem Kugelschreiber, der mir auch schon Anzüge verdorben hat. Man vergißt ihn, wenn man im Bett gelesen und Notizen gekritzelt hat. Das ist ebenso mißlich, wie wenn man das Tintenfaß umgestoßen hätte - das Leinen begnügt sich nicht mit einem Kleckse, sondern saugt die ganze Flüssigkeit heraus. Wenn Wilhelm Busch noch lebte, könnte er seinen verhinderten Dichter Balduin Bählamm modernisieren, die Schreibmaschine, das Telefon, Motoren im Nebenzimmer, vorm Hause, über dem Dach" (Siebzig verweht IV, 1. Juli 1987).

An anderer Stelle vergleicht er sich wieder mit Balduin Bählamm, dem verhinderten Dichter, und bedauert, daß die Maschinenabhängigkeit des Autors ihn dem Urbild Bählamm immer ähnlicher macht. (Was hätte er erst zur Nutzung des PC gesagt!) "Je mehr sich unsereiner auf Schreibmaschinen und dergleichen einläßt, desto ähnlicher wird er Balduin Bählamm, dem 'verhinderten Dichter' Wilhelm Buschs. Schlimmer als der technische Ärger ist die Gefährdung des Stils. Die Nebendinge nagen an der Substanz. Stufenweise verschwindet, was nicht in die Maschine paßt, zuletzt noch der Mensch" (Siebzig verweht III, 9. Dezember 1982).

Was er mit "Gefährdung des Stils" meint, regt die Phantasie an: Abkürzungen, Anglizismen, Leerformeln, Substantivstil, Kümmersätze ... In einem weiteren Tagebucheintrag unter dem gleichen Datum deutet Jünger an, daß die Popularität eines Autors (gilt das auch für ihn selbst?) seiner tieferen Kenntnis im Wege steht. Es heißt dort: "Die philosophische Bedeutung populärer Werke wird durch Beifall übertönt. Das gilt für Busch wie für Kubin, man könnte auch Nestroy einschließen. Man sieht wie beim Angeln den Korken tanzen, doch nicht den Haken unter ihm."

Das ist ein Satz, schillernd wie Opal, der viele Deutungen zuläßt. Eine aber ist sicher: Er hielt seinen Landsmann, seinen Schreib- und Leidensgenossen mit ähnlich abenteuerlichem Herzen und philosophischer Substanz für weit unterschätzt.

 

Prof. Dr. Ulrich Beer, Jahrgang 1932, ist Psychologe, Psychotherapeut und Buchautor. Zuletzt veröffentlichte er "Meine Lebens-Geister" (Centaurus Verlag) mit 15 Personenporträts, darunter auch Wilhelm Busch und Ernst Jünger. Beers Großonkel Pastor Theodor Adolph Beer konfirmierte 1911 Ernst Jünger.

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