© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/08 01. Februar 2008

Vergessene Veteranen
Eine Frage der Ehre
Dieter Stein

Wäre da nicht eine Notiz im Internet gewesen, niemand hätte es erfahren: Am 1. Januar verstarb der letzte deutsche Veteran des Ersten Weltkrieges. Im Alter von 107 Jahren wurde Erich Kästner, Namensvetter des großen Schriftstellers, abgerufen - und dem offiziellen Deutschland ist dies keine Silbe wert. Über zwei Millionen Soldaten des Deutschen Reiches fielen in den Schlachten dieses Krieges, dessen infernalischen "Stahlgewittern" Ernst Jünger in seinem Kriegstagebuch ein bleibendes literarisches Denkmal setzte.

Zum Symbol des Ersten Weltkrieges wurde das Abschlachten in Abnutzungskämpfen, bei denen es bei oft nur wenigen Metern Landgewinn um das schiere zahlenmäßige Vernichten von feindlichen Soldaten im tage-, wochenlangen Trommelfeuer und Granatenhagel ging. Für heute nicht mehr vorstellbar, wie immer neue Soldaten in diese Hölle getrieben wurden.

Die "Blutpumpe" Verdun wurde zum Symbol dieses Wahnsinnskrieges. Just über die Feiertage stieß ich beim Aufräumen auf den umfangreichen Nachlaß meines Urgroßvaters, der im Sommer 1916 in der Schlacht von Verdun fiel. Bewegt las ich die seitenlangen Korrespondenzen seines Bruders mit den verantwortlichen Offizieren, um zu erfahren, wie es zum Tod kam und ob die Bergung der Leiche gelungen sei. Er sei auf dem Rand eines Granattrichters getroffen worden, erfuhr er, beim Versuch, seine Leiche zu den eigenen Linien zu schaffen, seien drei weitere Soldaten gefallen.

Noch stehen in jedem Dorf, jeder Kleinstadt die von den Bürgern selbst errichteten Gefallenenehrenmäler. Viele sind gut erhalten und werden gepflegt. Die Zahl der verschwundenen, abgeräumten, verfallenden und von Chaoten geschändeten Ehrenmäler wächst aber beständig.

Alle anderen europäischen Nationen halten in anrührender Weise das Andenken an ihre Gefallenen in Ehren und zollen in vielfältiger Weise den noch lebenden Veteranen Respekt. Als in Frankreich kürzlich der vorletzte noch lebende Veteran des Ersten Weltkrieges starb, war dies den großen Zeitungen ausführliche Nachrufe wert. Und dem letzten Veteranen, dem 110jährigen Lazare Ponticelli, soll ein Staatsbegräbnis zuteil werden.

Deutsche rätseln manchmal, weshalb ihnen im Ausland (oder auch im Inland durch Neubürger mit "Migrationshintergrund") gelegentlich mit solcher Verachtung begegnet wird. Ein Anteil der Verachtung, die Deutschen entgegenschlägt, ist auch in ihrem Verlust an Würde begründet: weil sie nicht an jenem Minimum an Stolz festhalten, der es gebietet, seinen Soldaten, die für die eigene Nation das Leben gegeben haben, ein anständiges öffentliches Gedenken zu bewahren. Eine schwindende Zahl von Deutschen ehrt die Gefallenen noch im stillen Einsatz. Das offizielle Deutschland, die Repräsentanten des Staates, die gesellschaftlichen Eliten treten ihr Andenken jedoch mit Füßen.

Charles de Gaulles Satz bewahrheitet sich immer neu: "Man erkennt den Charakter eines Volkes auch daran, wie es nach einem verlorenen Krieg mit seinen Soldaten umgeht."

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