© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/08 01. Februar 2008

Flucht in die Utopie
Deutschland driftet: Die Sehnsucht nach dem alles verheißenden Wohlfühlstaat wächst
Thorsten Hinz

Die Wahlergebnisse von Hessen und Niedersachsen reichen weit über beide Länder hinaus, sie bedeuten in mehrerer Hinsicht eine Zäsur. Zwei Aspekte, der partei- und der staatspolitische, seien herausgegriffen. Deutschlandweit haben wir uns auf ein Fünf-Parteien-System einzurichten. Achtzehn Jahre nach dem Mauerfall stellt die Herkunft der Linkspartei aus der SED auch für westdeutsche Wähler keinen unüberwindlichen Makel mehr dar, werden die DDR und ihre Staatspartei historisiert, ihre Nachfolgeorganisationen am Nutzwert für die Gegenwart gemessen. Ein politisches Spektrum, das radikal linke Parteien als satisfaktionswürdig anerkennt, radikal rechte jedoch kriminalisiert, rückt logischerweise nach links, einschließlich seiner "Mitte", auf deren Besetzung FDP und CDU trotzig beharren, denn schließlich ist die Mitte das, was von allen (geduldeten) Enden gleich weit entfernt ist. Der relative Erfolg des CDU-Mannes Christian Wulff ist dafür der Beweis, denn der konturenlose Niedersachse verkörpert exemplarisch die Sozialdemokratisierung der Union.

Von Roland Koch war es ein psychologischer Fehler, das Thema Ausländerkriminalität derart in den Vordergrund zu schieben. Die taktische Absicht war offensichtlich, so daß selbst Wertkonservativen die Zustimmung schwerfiel. Aufgrund bitterer Erfahrungen mußten sie sich als Stimmvieh angesprochen fühlen, das man nach getaner Pflicht wieder abservieren würde. Aber letztlich war die mißglückte Koch-Kampagne nur sekundär. Entscheidend war die soziale Frage, die unter dem Schlagwort "Gerechtigkeit" in den Wahlkampf eingeführt wurde. Mit ihm konnte sogar eine Andrea Ypsilanti reüssieren, die Gerhard Schröder einst als "Frau XY" verspottet hatte und deren Kompetenz ihr Parteifreund Wolfgang Clement noch kurz vor der Wahl brachial in Frage stellte.

Wer die Linkspolitiker deshalb als Demagogen bezeichnet, sollte im selben Atemzug zugeben, daß die Wähler betrogen werden wollten! Wären sie tatsächlich an Sachkunde und Realismus interessiert gewesen, dann wäre es im Wahlkampf statt um Mindestlohn und Managergehälter um die exorbitanten Steuern und Abgaben als das wirkliche Problem der - immer noch - tragenden Mittelschichten gegangen.

Damit nähern wir uns dem Erzübel des politischen Bewußtseins und Systems. Man kann Koch für unsympathisch und seine Kampagne für mißglückt halten, um trotzdem zu erkennen, daß es beim Thema Ausländerkriminalität um mehr und um Tieferes geht als um das Schüren von Ressentiments. Es geht darum, wem der öffentliche Raum, wem die öffentlichen Güter gehören, wer den Zugriff auf sie bestimmt, wem das Land zu eigen ist, wer hier der Souverän ist! Wenn Spiegel online schreibt: "Die Anti-Ausländer-Nummer zieht offenbar nicht mehr - und darauf können wir endlich mal richtig stolz sein", dann ist das exakt jenes dümmliche, leider repräsentative BRD-Politik-Vokabular, das sich dem Politischen verweigert und es in den Bereich des Nur-Moralischen abdrängt. Fatalerweise hat die Politikverweigerung größtmögliche politische Folgen. Die permissive Ausländerpolitik ist stets apolitisch, mit humanitären, religiösen, moralisierenden Phrasen begründet worden. Heute ist klar, daß diese Neutralisierungen, Entpolitisierungen, salbungsvollen Freiheits- und Menschenrechtserklärungen sich gegen den deutschen Staat, seine Macht und Entscheidungsfähigkeit gerichtet haben. Mit der Hessen-Wahl hat eine Mehrheit diese Entwicklung abgesegnet.

Der Wählerentscheid liegt in der Konsequenz einer langen BRD-Mentalität. Unter dem Staat haben die Nachkriegsdeutschen mehrheitlich vor allem ein vorteilhaftes System der Sozialfürsorge verstanden, und dabei soll es bleiben. Die Reduktion des politischen Bewußtseins läßt die Unterscheidung zwischen essentiell politischen und sekundären Fragen nicht zu. Mit dem Konflikt, daß die sozialen Funktionen nur solange intakt bleiben, wie der Staat einen sicheren, wehrhaften Handlungsrahmen abgibt, sind die Deutschen überfordert, und vor der Politik haben sie Angst. Daher die Flucht nach links, wo ihnen versprochen wird, alles würde gut! Damit wird man den Mythos vom guten Volk, von der schweigenden Mehrheit begraben müssen, und die Rechte steht vor der Frage, in wessen Namen sie eigentlich spricht. Im Namen eines Staates, der von seinem Staatsvolk aufgegeben wird? Oder stellvertretend für ein abstraktes Prinzip?

Die Zukunft deutet sich in dem Brief an, den Bülent Arslan vom Deutsch-Türkischen Forum in der CDU an die Kanzlerin schrieb. Er vermerkt, daß in deutschen Großstädten 40 Prozent der Kinder einen "Migrationshintergrund" haben und folgert daraus: "Um zukunftsfähig zu bleiben, muß die CDU gerade in Wahlkampfzeiten eine Polarisierung um das Thema Migration und Ausländer in Deutschland vermeiden." Das ist nur der Fall, wenn diese Kinder ungeprüft die Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht erhalten. Das aber liegt, so ist Arslan zu verstehen, nicht mehr im Belieben des deutschen Souveräns. Mit der gleichen Naturgesetzlichkeit ließe sich dann auch der EU-Beitritt der Türkei und die Streichung des "C" aus dem Parteinamen der Union begründen.

Passend dazu das Interview mit dem Verfassungsschutzpräsidenten Heinz Fromm, der die Beobachtung der Linkspartei beenden, die der NPD aber fortsetzen möchte und eine politische Relevanz der Deutschfeindlichkeit von Ausländern verneint. Es geht ab jetzt also darum, den Multikulturalismus als staatspolitische Grundtatsache festzuklopfen. Die Linkspartei wird sie aufgrund ihres traditionalen Internationalismus nicht angreifen und daher gefahrlos den fälligen Sozialfrust absorbieren. Für die harten, politischen Konflikte wird man den Ungeist "der Rechten" verantwortlich machen und an ihrer exemplarischen Bestrafung vorführen, was dem Demos jeweils verboten ist. Die Rechte in Deutschland wird auch nach dieser Wahlzäsur also noch dringend gebraucht.

Foto: Winken mit dem ewig prallen Füllhorn des Staates: Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, die Chefs der jetzt auch im Westen erfolgreichen Linkspartei,

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