© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/08 18. Januar 2008

Unfaßbare Sudeleien
Perverse Zeiten: Jens Jessen, Feuilletonchef der "Zeit", verhöhnt die Opfer ausländischer Schläger als "deutsche Spießer"
Doris Neujahr

Nach dem dialektischen Grundgesetz von Quantität und Qualität müßte die Informationsfülle über die Ausländer- und Jugendkriminalität, die wie nach einem Dammbruch hereinbricht, das Gutmenschen-Paradigma aufsprengen und den Blick freimachen für eine realistische Beurteilung der Lage. Doch das Gesetz erfüllt sich nicht im Selbstlauf.

Jens Jessen (52), Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, sinniert in seinem aktuellen Videokommentar (ein Lenin-Bild im Hintergrund an der Wand), ob der Rentner, der in München von einem Griechen und einem Türken halbtot geschlagen wurde, womöglich zu den "deutschen Spießern" gehöre, die junge Ausländer mit "Gängelungen, Ermahnungen und blöden Anquatschungen" reizten und so überhaupt erst "die Atmosphäre der Intoleranz (erzeugen), vor deren Hintergrund man Gewalttaten spontaner Natur beachten muß". Man müsse "einmal die Frage stellen, ob es nicht auch zuviel besserwisserische deutsche Rentner gibt, die den Ausländern hier das Leben zur Hölle machen". Es fehlt nur noch die Forderung, dem 76jährigen die Pension zu pfänden und sie den jungen Schlägern auszuhändigen - als Schmerzensgeld für die seelischen Verletzungen, die der Alte ihnen zugefügt hat.

Bisher gab es Gründe, Jessen für einen klugen Kopf zu halten, für einen der ganz wenigen deutschen Journalisten, die man "liberal" nennen konnte, ohne das abwertend zu meinen. Vor Jahren verfaßte er sogar einen energischen, wenn auch nicht ausreichend begriffsscharfen Artikel darüber, ob der Liberalismus durch seinen Sieg nicht dazu verführt worden sei, selber totalitär zu werden.

Für seine aktuelle, unfaßbare Sudelei sind daher nur drei Gründe denkbar: Entweder stand er bei seiner Ansprache unter Drogen. Oder sie war als Satire gemeint, und Jessen wollte jene Wortführer, die sich nach dem Motto "Deutsche Täter sind keine Opfer!" reflexartig auf die Seite der ausländischen Schläger stellen, demaskieren, indem er ihre Logik bis ins Absurde steigert. Sollte sein Beitrag jedoch, drittens, ernst gemeint sein, dann wäre er der Beweis dafür, daß nicht bloß der alte, linksdrehende BRD-Liberalismus, sondern der Liberalismus überhaupt angesichts neuer Sachlagen nur noch um den Preis moralischer, intellektueller und politischer Perversion begründbar ist.

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