© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/08 11. Januar 2008

Pankraz,
Winnetou und die weißrussische Grenze

Beeindruckt war Pankraz von der Mitteilung, daß polnische Grenzbeamte jetzt auch von den Nachfahren Winnetous und Old Shatterhands geschult und mit Informationen versorgt werden. Aus den USA, so liest man, sei extra eine kleine, erlauchte Truppe von im Fährtenlesen erfahrenen Indianerhäuptlingen nach Warschau eingeflogen worden, um die dortigen Beamten in die feinsten Geheimnisse des Spurensuchens einzuweihen.

Seitdem Polen am 21. Dezember vorigen Jahres dem Schengener Abkommen beigetreten ist und damit die EU-Grenze an Weißrußland und die Ukraine heranrückte, ist dort offenbar der totale Krieg gegen Schmuggler und illegale Immigranten ausgebrochen. Die Methoden der letzteren werden immer raffinierter, weder Truppenverstärkung noch deutsche Fein- und Nachtsichtgeräte helfen mehr, weil die Grenzverletzer immer schon weg sind, wenn die Grenzer aktiv werden. Auch Spürhunde können der Misere nicht abhelfen, da sie nur den Geruch möglicher Verbrecher ausmachen, nicht aber, ob es wirklich Verbrecher sind. Deshalb also der Auftritt der Indianerhäuptlinge.

Diese sind, wie man bei Karl May nachlesen kann, zu unglaublichen Deutungsleistungen imstande. Sie erschnuppern die Spuren nicht nur wie Hunde, sondern sie "sehen" sie. Und sie sehen die Spuren nicht nur, sondern sie "lesen" sie. Ein flüchtiger Reifeneindruck im Schlamm ist für sie ein ganzes Lexikon erhellender Spezialauskünfte. Handelte es sich hier um ein Fahrzeug aus Minsk oder aus Kiew? War es vollgeladen oder halbleer? In welche Richtung fuhr es und zu welchem Zweck? Dies alles und noch viel mehr "lesen" die Häuptlinge aus Reifenabdrücken, beiläufigen Ölflecken oder abgebrochenen Zweiglein am Wegesrand, und sie irren sich nie.

Man könnte darüber zum Wundergläubigen werden. Aber sind die Leistungen ganz normaler Archäologen oder diverser Historiker und sonstiger Archivarbeiter nicht durchaus vergleichbar mit denen der spurenlesenden Häuptlinge? Ruht das ganze komplizierte Gebäude unserer modernen Kultur nicht auf ständigem Spurenlesen in höchster Vollendung?

Soeben ist an der Berliner Humboldt-Universität ein Forschungsprojekt "Spurenlesen" ausgelaufen, d.h. die Drittmittel, die dafür zur Verfügung standen, sind aufgebraucht. Unter der Obhut von Frau Professor Sibylle Krämer ging es dort gewissermaßen um die Seele des Spurensuchens, nämlich um die Spurensicherung.  Alles Leben und alle Formen der Kultur sind vergänglich, sie hinterlassen lediglich Spuren, und für professionelle Spurensucher kommt es primär darauf an, diese Spuren zu sichern, darauf zu achten, daß Ignoranten sie nicht zertrampeln oder sonstwie verfälschen.

Wie das geschieht, läßt sich an Winnetou und Old Shatterhand gut studieren. Ihre volle Autorität müssen sie einsetzen, um bei Verfolgung einer verheißungsvollen Spur den Tatort "reinzuhalten", das Areal, das nicht "beschmutzt" werden darf, abzustecken und nachträgliche Veränderungen zu durchschauen und in den alten Zustand zurückzuversetzen. Es gibt unter den Spurenzerstörern ja nicht nur gutwillige Nichtskönner, sondern auch heimtückische Feinde, die mit verfolgten Spitzbuben unter einer Decke stecken und daran interessiert sind, die Spuren zu verwischen.  Diesen Typen muß sorgfältig das Handwerk gelegt werden.

Außer um Spurensicherung im engeren Sinne ging es den Berlinern um die Erarbeitung einer kompletten Methodologie des Spurensuchens. Sind die Methoden, die die Medizin beim Aufspüren eines Virus anwendet,  identisch oder auch nur vergleichbar mit denen, die in der Kriminalistik beim Aufspüren von Gesetzesbrechern notwendig werden? Und wie steht es mit der Spurensuche in der Molekular- und "Teilchen"-Technik, dem gegenwärtigen Vorzeigeobjekt der "exakten" Wissenschaft? Was sind da die angemessenen Methoden?

Die "Teilchen", die in den gigantischen, gigantisch teuren Teilchenbeschleunigern im Kreis herumgejagt und schließlich zum Zusammenstoß gebracht werden, hinterlassen bekanntlich nichts als eine Dampfspur. Niemand weiß, ob dahinter überhaupt ein "Teilchen" verborgen war und welche Eigenschaften es hatte. Man weiß im Grunde nichts, und je mehr man in den Spuren herumliest, um so weniger weiß man. Der Verdacht keimt auf, daß man da Spuren liest, die man sich selber gelegt hat, so wie sich einst der Baron Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf zog.

"Teilchen", Viren, Gesetzesbrecher, Schmuggler, Grenzverletzer - beinahe könnte man glauben, die ganze Spurensucherei sei ein einziges kriminalistisches Großunternehmen zum Aufspüren von Spitzbuben, Narren und anderen Unheilsgestalten. Die Parallele zum gegenwärtigen Fernsehbetrieb bietet sich an; dort gibt es ja - außer Gewinnspielen um Geldsummen - auch nur noch Kriminalspiele, "Tatorte" mit dümmlichen Kommissarinnen und Kommissaren. Die Spuren, die da verfolgt werden, sind alle selbst gelegt, und am Ende bleibt ein trostloses Kreisen in Kreisen.

Fast verzweifelt liest sich da die Versicherung der Berliner Humboldtforscher, man suche nicht nur nach Spuren der Vergangenheit und nach Unheilsspuren, sondern nach "Spuren an sich", also zum Beispiel auch nach Spuren, die in die Zukunft weisen, und das Spurenlesen sei gleichsam die Protoform jeglicher Kultur- und Zukunftsforschung. Die Drittmittel, sagt Pankraz voraus, werden nicht weiterfließen, und das Projekt "Spurenlesen" wird nicht einmal eine nennenswerte Spur im Wissenschaftsbetrieb hinterlassen.

Eigentlich schade, nicht nur der polnischen Grenzer an der weißrussischen Grenze wegen, die nun wohl auf eine wissenschaftliche Rechtfertigung ihres sicher recht kostspieligen Einsatzes von Indianerhäuptlingen werden verzichten müssen. Ob sich der Einsatz trotzdem gelohnt hat, wird die Zukunft erweisen. Es wird , wenn nicht alles täuscht, eine Zukunft des aggressiven Abgrenzens und des illegalen Fährtenlegens sein.

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