© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/07-01/08 21./28. Dezember 2007

Auf der Suche nach Ablenkung
Kino: "Tödliche Versprechen" von David Cronenberg bietet hochkarätigen Genuß
Ellen Kositza

Ja, dies ist ein Mafia-Film, präziser: ein Russenmafia-Film, aber das Genre ist damit nur unvollständig umrissen. Es ist vor allem anderen ein Cronenberg-Film. Der 64jährige Regisseur aus Toronto ist als Meister des Psycho-Horrors so berühmt wie berüchtigt. Einige seine Filme lieferten wahre Gemetzel, so daß nur härtestgesottene Liebhaber solcher Stilrichtungen darin Ästhetik, Kulturkritik und psychologischen Feinsinn entziffern konnten.

Mit dem Remake von "Die Fliege" (1986) lieferte Cronenberg einst den Videohintergrund für die frühe Clubszene der Techno- und Electronic-Body-Music-Sparte; unter anderem mit "Naked Lunch" (1991), "Spider" (2002) und "A History of Violence" (2005) wurde er einem breiteren Kinopublikum bekannt. Mit der Parole "Augen schließen und genießen" läßt sich Cronenbergs neuer Film auch zärteren Gemütern empfehlen. Wer während der drei, vier kurzen Blut-und-Metzel-Szenen wegschauen mag, kommt dennoch zu einem hochkarätigen Leinwandgenuß.

In der Anfangszene sehen wir ein Mädchen in einer Apotheke um Hilfe flehen. Kurz darauf bricht die Schwangere zusammen; sie verstirbt im Krankenhaus, während das Neugeborene gerettet werden kann. Da die Identität der offenbar illegal sich in London aufhaltenden Prostituierten ungeklärt ist, nimmt Hebamme Anna (Naomi Watts) deren russisch geschriebenes Tagebuch an sich. Annas Großvater (Jerzy Skolimowski) ist Russe, doch nach einer ersten Durchsicht der Kladde verweigert er die Übersetzungshilfe: Die Enkelin möge die Finger von der Sache lassen.

Anna, wohlbehütet und aufgrund einer schmerzlichen Liebesgeschichte auf der Suche nach Ablenkung, folgt der Spur einer Visitenkarte aus dem Tagebuch. Sie wird im russischen Restaurant des zuvorkommenden Semyon (Armin Mueller-Stahl) vorstellig. Der mag ihr gern helfen, eröffnet ihr aber bei einem weiteren Treffen, daß wohl sein problematischer Sohn Kiril (Vincent Cassel) in die Prostituierten-Geschichte verstrickt ist. Daher wolle der Patriarch die Sache in Annas Sinne allein regeln, schließlich habe er auch die Adresse der Eltern des toten Mädchens. Und darum gehe es doch Anna: Der Säugling soll seinem wahren Zuhause zugeführt werden. Anna, in einer Mischung aus Naivität und Übermut, läßt sich aber nicht so schnell abwimmeln; auch nicht, als sie nähere Bekanntschaft mit Kiril und dem düsteren Russen-Chauffeur Nikolaj macht. Spät merkt sie, daß nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr ist - bald befinden sich zahlreiche Beteiligte im Visier der russischen Verbrecherorganisation Vory V Zakone.

Was sollte man hervorheben bei diesem durch und durch brillanten Film? Die Besetzung, ja, aber wen zuvörderst? Wohl Viggo Mortensen als Nikolaj - oder Armin Mueller-Stahl, der nach langer Leinwand-Abstinenz hier in einer flirrenden Zwitterrolle als freundlicher Opa und skrupelloser Mafia-Patriarch kongenial reüssiert?

Das internationale Filmpersonal macht "Eastern Promises" übrigens gerade im Original sehenswert: Wie der dänischstämmige Mortensen, der deutsche Mueller-Stahl, Franzose Cassel und Pole Skolimowski im Englischen ihren russischen Akzent hinbekommen, ist schon beachtlich. Leichter hatten es da die Irin Sinead Cusack (Annas Mutter) und Naomi Watts, die als biedere Middleclass-Familie den Heile-Welt-Gegenpol zur durch und durch düsteren Londoner Unterwelt darstellen.

Ausgewiesene Cronenberg-Anhänger mögen eine "opportunistische" Hinwendung des exzessiven Regisseurs zum "Mainstream"-Kino beklagen - die andererseits vorhergesagte Anwärterschaft dieses hochatmosphärischen und psychologisch ausgefeilten Films auf entscheidende Kino-Trophäen ist in jedem Fall berechtigt.


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