© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/07-01/08 21./28. Dezember 2007

Der Hunger und die Ananas
Märchen aus der Wirtschaftskrise: "Der Silbersee" von Kurt Weill verschlägt den Atem
Jens Knorr

Gut zehn Wochen liegen zwischen der Aufführung von Hans Pfitzners romantischer Kantate "Von deutscher Seele" und dem gründlich mißlungenen Versuch, sie im vorhinein zu skandalisieren (JF 42/07), und der Aufführung von Kurt Weills Musik zu Georg Kaisers Wintermärchen in drei Akten "Der Silbersee"; mehr als zehn Jahre Weimarer Republik liegen zwischen den Kompositionen. Ende Juli 1932 beginnen Weill und Kaiser die Arbeit an ihrem dritten gemeinsamen Projekt, am 18. Februar 1933 findet die Ring-Uraufführung in Leipzig, Magdeburg und Erfurt statt, Anfang März wird das Stück an allen drei Theatern auf Druck der Nationalsozialisten abgesetzt, die letzte Leipziger Vorstellung am 4. März ist für zwölf Jahre das letzte Mal, daß Weills Musik in Deutschland öffentlich gespielt wird. Der Komponist verläßt am 21. März, dem Tag von Potsdam, Deutschland für immer.

Der Hunger soll begraben werden, doch der läßt sich nicht begraben. Statt Mehl und Fett zu stehlen, greift ein Arbeitsloser, Severin, nach der Frucht aus Fabelland, einer Ananas. Ein Polizeischütze, Olim, will dem, den er anschoß, Bruder werden. Ein Lottogewinn ermöglicht sorgenfreies Zusammenleben im Märchenschloß, das aber nicht den Haß des Angeschossenen auf den unbekannten Schützen und die Angst des Schützen vor Entdeckung durch den Angeschossenen löst. Haß und Angst bringen beide um ihren Besitz. Ein Mädchen, Fennimore, findet bindendere Verwandtschaft als die des Blutes, befreit den Hasser und den Ängstlichen aus ihren Zellen des Hasses und der Angst und liefert sie einander aus.

Bedeutet in der Gegenwart der Verlust allen Habens den Verlust allen Seins, entläßt doch die Verpflichtung, weiterzuleben, diejenigen noch nicht, die Haß und Angst begraben haben. Der Silbersee, dessen Wasser die beiden für ein kapitalbildendes und -erhaltendes Leben Untauglichen suchen, friert zu und wird zum festen Pfad, den sie betreten.

Für dieses phantastische Ende der Parabel, das ein Anfang ist, hat Kurt Weill eine Musik gefunden, bei deren Hören dem Hörer immer aufs neue die Spucke wegbleibt. Den Chorus mysticus des Finales überwölbt die Stimme Fennimores, der armen Verwandten, die längst wieder aus der Handlung verschwunden war, und selbstverständlich singt Christiane Oelze ihr Solo von der Orgelempore, dem Stammplatz noch jeder Mater gloriosa in Scharouns Berliner Philharmonie. Es ist ein Märchen aus der Wirtschaftskrise, ein Märchen für die ganze Familie, ein Wintermärchen, von deutscher Seele und deren Preisgestaltung auch.

Aber von welcher Gattung ist es, dieses Wintermärchen? Ein Schauspiel mit Musik oder eine Oper? Ein musikalisches Volksstück oder - wie Weill es nennt: - ein Zwischengattungsstück, die Partien zu schwierig für Schauspieler, die Rollentexte zu umfangreich für Sänger?

Der Schauspieler Thomas Thieme hat für die konzertante Aufführung in der Philharmonie eine schlüssige Fassung mit Dialogen und Zwischentexten (Sprecher: Christian Ehrich) erarbeitet. Thieme (Olim) trifft den Gestus der Figur, kaum aber die Töne der Partie, die Sänger treffen die Töne, aber nicht in jedem Fall den Gestus. Am ehesten könnte Christiane Oelze (Fennimore) beide treffen, Ton und Gestus, wenn sie nicht eisern, wie um darstellerischen Nachdruck zu erzwingen, ihre leichte Sopranstimme aus dem Fokus drücken würde. Hanna Schwarz (Frau von Luber) ist immer noch fabelhaft präsent. Torsten Kerl (Severin) bleibt der exponierten Tenorpartie, insbesondere der Rachearie im dritten Akt, nichts schuldig.

Dirigent Ingo Metzmacher führt die unterschiedlichen Haltungen der Bühnen-, der Konzertsänger und die des Schauspielers zusammen und gegeneinander, und vielleicht liegt darin das eigentliche Wagnis dieser Aufführung beschlossen, daß wir Untauglichen uns auf halbem Wege begegnen und auf glatter Ebene nebeneinander schreiten - wohin? Wer weiter muß, den trägt der Silbersee! Sagt Fennimore, sagen Olim und Severin, singt der Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Sigurd Brauns) und spielt das Deutsche Symphonie-Orchester, und beide Klangkörper treffen genau jenes musikalische Idiom, das sich dem ersten Hören ebenso eingängig und schmissig wie das der "Dreigroschenoper" gibt, jedoch schon beim zweiten Hören als ebenso komplex und haltbar erweist wie dieses.

Einmütiger Beifall, mit Bravorufen durchsetzt. Wer sich als Arbeitsloser ausweisen konnte, hatte an beiden Aufführungstagen freien Eintritt in Scharouns Philharmonie. Davon aber wurde am Sonntagabend, wenn überhaupt, nur wenig Gebrauch gemacht, die goldene Ananas auf schwarz verkleidetem Hocker blieb bis zum Ende unberührt.


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