© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/07 07. Dezember 2007

Die Alternative zu Heidegger
Carola Dietzes Biographie des Philosophen und Remigranten Helmuth Plessner
Marc Schöller

Gäbe es da nicht das "Rektorat 1933", Martin Heideggers Ruf als größter Denker nach Hegel wäre gesichert. So aber provoziert sein politisches Engagement im Jahr der NS-Machtergreifung immer wieder Versuche, ihm diesen Rang streitig zu machen. Denn schließlich, so die Phalanx der Heidegger-Kritiker, müsse es doch wohl gegen die Qualität einer Philosophie sprechen, wenn sich deren Schöpfer als Megaphon von Rasseideologen verdinge. Da sei es auch legitim, in Heideggers "Existenzialanalyse" nach völkischen Dispositionen zu fahnden, die das "Vorlaufen" des "Meisters aus Deutschland" in die Arme Adolf Hitlers nur zu erklärlich erscheinen ließen.

Neben Ernst Cassirer ist es der 1985 gestorbene Helmuth Plessner, der von derartigen "Umwertungen" profitiert und seit einiger Zeit als "Alternative zu Heidegger" mehr als nur philosophiehistorisches Interesse auf sich zieht. Vor allem der in Potsdam lehrende Hans-Peter Krüger gilt als eifrig-eifernder Propagandist Plessners, der den "weltoffenen" Großbürger gern gegen den etwa gleichaltrigen "kleinbürgerlichen Provinzler" aus dem Schwarzwald ausspielt. Krügers Assistent Kai Hauke wies daher unumwunden auf das in Plessners Werk steckende Aktualisierungspotential: Die "wiedergewonnene Einheit" der Deutschen begünstige eine "Hinwendung zur Plessnerschen Anthropologie" im Sinne einer "Entscheidung für den Humanismus", für eine "universelle Ethik", die für ihn offenbar die Überführung der "Einheit" in den Prozeß "europäischer Integration" ideologisch erleichtern soll. Kaum überraschend, wenn sich für Krüger Plessner konsequent als Vordenker des Multikulturalismus empfiehlt: Bei ihm lerne man, "so souverän zu sein, uns dem Anderssein unserer selbst zu öffnen", und nicht wie bei Heidegger "Selbstbehauptung gegen andere" zu kultivieren.

Volkspädagogisch motivierte Verwertungsabsichten solchen Strickmusters begnügen sich regelmäßig mit dem Arrangement von Textpassagen, die ihrem Anliegen förderlich sind. Ein historisch-biographischer Zugriff käme diesem Präsentismus womöglich in die Quere. Darum dauerte es recht lange, bevor sich jemand der Mühe unterzog, eine auf breites archivalisches Fundament gestützte Plessner-Biographie zu schreiben. Dieses Verdienst kommt Carola Dietze zu, die für ihre Göttinger Dissertation über das "nachgeholte Leben" Helmuth Plessners zu Recht im vorigen Jahr mit dem Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historikerinnen und Historiker Deutschlands ausgezeichnet wurde.

Zu Recht deshalb, weil die 1973 geborene Autorin erstmals den im niederländischen Groningen, Plessners Exilstation zwischen 1934 und 1943, lagernden Nachlaß und darüberhinaus alle damit korrespondierenden Bestände in vorbildlicher Gründlichkeit ausgewertet und mit zahlreichen Zeitzeugen-Interviews "aufgefüllt" hat, so daß ein wohl nicht mehr zu übertreffendes Porträt vom "äußeren Leben" des Mitbegründers der deutschen "philosophischen Anthropologie" entstanden ist. Dietze ist sich sicher, daß Plessner als "einer der interessantesten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts" ihre Anstrengungen "um seiner selbst willen" verdient habe. Darum breitet sie ihre Aktenfunde in verschwenderischer Fülle aus, oft ungeachtet ihrer eignen Maxime, dieses Material "im engen Zusammenhang" mit Plessners "politischen Positionen, ihren philosophischen Voraussetzungen und seinem Denken über Deutschland" zu analysieren. Die genealogischen Details vornehmlich der väterlichen, jüdischen, ins schlesische Pleß führenden Familiengeschichte fehlen darum sowenig wie die Alltäglichkeiten aus dem Professorenleben des 1949 nach Göttingen berufenen "Remigranten", der hier selbst noch als Häuslebauer und Hundehalter Dietzes Beachtung findet.

Breiten Raum nimmt die Rekonstruktion des Emigrantendaseins des 1933 an der Universität Köln entlassenen, 1934 nach Holland ausgewichenen "Halbjuden" ein, der bis zum Kriegsbeginn  eine so prekäre wie erstaunliche "Doppelexistenz" mit regelmäßigen Aufenthalten im "Reich" führte. Wie Dietze ermittelt, riskierte Plessner, seit 1943 in Utrecht "untergetaucht", sogar noch 1944 eine "Heimreise" nach Wiesbaden, im Wehrmachtszug, und kam unversehrt zurück. Mit vergleichbar hingebungsvoller Akribie rekonstruiert sie Plessners Reintegration ins westdeutsche Universitätsleben und das Milieu der "begrenzten Diskretion" zwischen jenen Ordinarien, die zur "Funktionselite" des NS-Staates gehört hatten wie in Göttingen Percy Ernst Schramm als Kriegstagebuchführer im OKW oder der Verwaltungsrechtler Arnold Köttgen als Generalpolizeidezernent in Kattowitz und juristischer Berater des "Polenschlächters" Hans Frank, und deren überlebenden Opfern wie dem Staatsrechtler Gerhard Leibholz und dessen Freund Plessner. Abgesehen von kleinen Korrekturen bestätigt Dietze dabei widerstrebend Hermann Lübbes Befund, dem zufolge das "kommunikative Beschweigen" der NS-Vergangenheit keineswegs als "zweite Schuld" angeprangert, sondern als heilend, versöhnend, integrativ und damit zum Aufbau der Demokratie beitragend gewürdigt werden müsse. Plessner fügte sich hier ein.

Er durchbrach diesen diskreten "Umgang mit Vergangenheiten" kaum einmal, und auch da nicht öffentlich, als es darum ging, Arnold Gehlens Berufung nach Heidelberg zu verhindern. In grotesker Fehleinschätzung der seit 1949 erreichten politischen Stabilität des Bonner Wirtschaftswunderlandes  glaubte Plessner, daß von dem "antiliberalen Denker" Gehlen eine "Revalorisierung des Dritten Reiches" ausgehe, daß er eine ganze Studentengeneration mit der "Feindschaft gegen die demokratische Gesellschaftsentwicklung beseelen" werde und daß dieser "strukturelle SS-Typ" den vermeintlichen "antisemitischen und faschistischen Tendenzen" der westdeutschen Gelehrtenrepublik Auftrieb geben könne.

Die in allen Facetten ausgeleuchtete Gehlen-Episode zählt sicher zu den Glanzstücken des Lebensfilms, den Dietze hier abrollt, und sie löst den Anspruch, Biographie und Zeitgeschichte zu verzahnen, besonders prägnant ein. Demgegenüber tritt die Beschäftigung mit dem Werk, primär mit der politischen Philosophie Plessners, mit "Grenzen der Gemeinschaft" (1924), "Macht und menschliche Natur" (1931) und "Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche" (1935, neu erschienen unter dem zum Schlagwort gewordenen Titel "Die verspätete Nation", 1959), nicht nur stark zurück, sie folgt auch - nicht allein, wo es etwa um das Verhältnis Plessners zu Carl Schmitt geht - allzu unkritisch der "herrschenden Meinung" der Krügers und Haukes.

Insoweit steht ihre Biographie also leider nicht quer zu deren geschichtspolitischen Verwertungsintentionen. Aber es hieße die Ansprüche an eine Dissertation, die im Biographischen keine Wünsche offenläßt, wohl unfair zu überdehnen, wollte man als Zugabe noch eine eigenständige Interpretation eines Werkes erwarten, das in der Zwischenkriegszeit tatsächlich zu den wenigen "Entwürfen" politischer Philosophie zählte, die sich gegen "totalisierende Versuchungen" immun zeigten.

Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, gebunden, 622 Seiten, Abbildungen, 45 Euro

Foto: Helmuth Plessner 1953 als Direktor des Soziologischen Seminars Göttingen, 1928 als Griechenland-Reisender: Im Milieu der "begrenzten Diskretion" zwischen verstrickten Ordinarien eingefügt


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