© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/07 07. Dezember 2007

"Ein Projekt, das uns allen nützt"
EU-Politik: Der italienische Präsident Napolitano warb für den europäischen Einigungsprozeß / Viel Lob für den Beitrittskandidaten Türkei in Berlin
Christian Dorn

Überaus emphatische Worte zum EU-Einigungsprozeß waren es, die der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano vergangene Woche vor den Studenten der Humboldt-Universität zu Berlin fand. Elegisch beschwor er den "europäischen Glauben" und mahnte angesichts der gescheiterten EU-Verfassung den Elan der Vergangenheit an. Dieser "bestand aus einem tiefgreifenden Bewußtsein der Verantwortung Europas, aus einer stolzen Einforderung seiner Rolle, aus dem offenen Eingeständnis seiner Fehler und einer langfristigen Vision", sagte der 82jährige Postkommunist. Es komme so in der Union mit 27 Mitgliedern wieder zur "Überlagerung zwischen den verschiedenen Visionen des europäischen Projekts".

Um den "Elan" zu beflügeln, appellierte Napolitano an zeitgeistige Ängste: "Europa erneuert sich nicht und wächst nicht, wie es vom globalen Wettbewerb gefordert wird." Es bleibe nicht viel Zeit, um die "Verzögerung Europas zu überwinden, seinen Teil gegen den Terrorismus zu tun, für die internationale Sicherheit, und so Glaubwürdigkeit und Gewicht zu erlangen". Die EU müsse in "internationalen Foren mit nur einer Stimme sprechen, eigene Positionen und Initiativen bezüglich der dringendsten vorliegenden Fragen entwickeln", so der Präsident, denn "wir können das Risiko einer grundlegenden Irrelevanz Europas im Weltkontext nicht leugnen". Napolitano warnte eindringlich vor den "betrügerischen und zerstörerischen Kampagnen" gegen den EU-Einigungsprozeß.

Doch ob die Beschwörung der äußeren Zwänge ausreicht, den "Geist Europas" zu beleben und die europäischen Völker und Nationen zu verbinden, bleibt fraglich - vor allem, wenn man an die geplante EU-Erweiterung um die Türkei denkt. Für den Beitritt des islamischen Landes wird aus den unterschiedlichsten Gründen massiv geworben. So auch bei einer parallelen Veranstaltung unter dem Motto "Gute Noten für die Türkei - oder Versetzung gefährdet?" in der Europäischen Akademie Berlin (EAB), wo der jüngst vorgelegte EU-Fortschrittsbericht diskutiert wurde (JF 47/07). Er wird jedes Jahr von der EU-Kommission erstellt und soll Auskunft geben über die Entwicklung des Beitrittskandidaten Türkei. Der einstige Generalkonsul Deutschlands in Istanbul und Vize der Initiative Europäischer Türken in Berlin (BATI), Reiner Möckelmann, relativierte dabei die Metapher vom "Schüler" Türkei. Allenfalls könne von Europa als einem "fliegenden Klassenzimmer" die Rede sein, dem sich die Türkei anzupassen habe. Übertroffen wurde dieses Bild nur noch von dem Leiter der EAB, Eckart Stratenschulte, der die EU dementsprechend als "moving target" apostrophierte.

Dietlind Jering, stellvertretende Leiterin der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland, wiederholte einmal mehr das Mantra, dem zufolge die Türkei als "einzigartige Schnittstelle" zwischen Okzident und Orient ein "offensichtlicher strategischer Zugewinn" sei. Sie nannte den Beitritt "ein Projekt, das uns allen nützt". Aus dem eigentlich kritischen Fortschrittsbericht griff sie wie Möckelmann vor allem das Positive im Bereich der Wirtschaft (Wachstum, Abbau des Haushaltsdefizits, hohe ausländische Direktinvestitionen, Unabhängigkeit der Nationalbank) heraus. Die demokratischen Defizite, insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht öffentlicher Verwaltungen, die Einschränkung der Meinungsfreiheit sowie die ungenügenden Rechte nicht-muslimischer Glaubensgemeinschaften, wurden aber immerhin erwähnt. Die Problematik des Erwerbs von Eigentumsrechten beispielsweise für christliche Kirchen thematisierte überraschenderweise Hakkı Keskin, der für die Linkspartei im Bundestag sitzt und dort EU-Erweiterungsbeauftragter der Fraktion ist.

Der Hamburger Professor, Gründungsvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und bis 1997 als SPD-Mitglied Bürgerschaftsabgeordneter in der Hansestadt, forderte zudem von der Türkei eine "Lösung der kurdischen Frage". Dies sei schon aufgrund des kurdischen Bevölkerungsanteils von insgesamt einem Fünftel in der Türkei geradezu evident. Zuvorderst mahnte Keskin an, daß in den betreffenden Regionen Kurdisch wieder als Muttersprache unterrichtet werden müßte.

Daraufhin platzte dem anwesenden türkischen Generalkonsul Ahmet Nazif Alpman ganz undiplomatisch der Kragen. Und es war nur der souveränen Moderation Stratenschultes zu verdanken, daß die Situation nicht eskalierte. Der EAB-Chef kam der türkischen Position aber etwas entgegen, indem er die Aufnahme des griechischen Teils von Zypern in die EU im Jahr 2004 explizit als "Sonder- und Sündenfall" bezeichnete.

Auch die Frage der Rolle des türkischen Militärs verdeutlichte das Dilemma der EU-Erweiterungsapostel. Brüssel wünscht sich, daß die Armee nicht erneut in die politischen Geschicke des Landes eingreift. Aber es ist - das machten verschiedene Stellungnahmen an diesem Abend deutlich - ausgerechnet das laizistische Militär, welches als Hüterin der kemalistischen Verfassung dem unter Premier Recep Tayyip Erdoğan drohenden Wandel der Türkei zu einem islamistischen Staat Einhalt gebieten kann.

Den absurden Schlußpunkt des Abends setzte wiederum Keskin, indem er den Fall des Deutschen Marco W. (dem sexueller Mißbrauch einer 13jährigen Britin vorgeworfen wird) als Beispiel für die Unabhängigkeit der türkischen Justiz vorstellte. Damit konnte sicherlich auch Generalkonsul Alpman leben.


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