© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/07 30. November 2007

Hegels Erbe
Der konservative Philosoph und Joachim-Ritter-Schüler Günter Rohrmoser begeht seinen achtzigsten Geburtstag
Manfred Krafft

Nach wie vor hält Günter Rohrmoser jeden Montag und jeden Freitag in der Universität Hohenheim seine Vorlesungen. Zu seinen Füßen sitzt, bei jedem Wetter, eine zahlreiche und illustre Hörerschaft, die er mitzureißen vermag. Er deutet die große Geschichte des abendländischen Denkens von Platon bis in die Moderne, und er entschlüsselt die großen Zeugnisse der Weltliteratur für die Gegenwart: die antike Tragödie, Shakespeare, Thomas Mann. Rohrmoser beherrscht die druckreife freie Rede wie kaum ein Zweiter. Niemals war der Zeitgeist sein Maßstab, stets war es die große Philosophie, die nicht überholt werden kann und deren Gedanken Besitz für immer sind. Daraus schöpft er seit Jahrzehnten seine Unabhängigkeit und Unbeirrbarkeit. Seine Philosophie ist zu einem  untrüglichen Kompaß geworden, um das Zeitalter der Ideologien und die Moderne begreifen zu können.

Angesichts seiner Vitalität und ungebrochenen Schaffenskraft ist es kaum zu glauben, daß Rohrmoser am 29. November sein achtzigstes Lebensjahr vollendete. Kaum ein Jahrgang hat so viele Umbrüche und Krisen erlebt wie der Jahrgang 1927, dem Rohrmoser angehört. Seine bleibenden philosophischen Prägungen erfuhr er in den ersten Nachkriegsjahren von dem Philosophen Joachim Ritter in Münster. Neben Rohrmoser gingen unter anderem Hermann Lübbe, Robert Spae-mann, Odo Marquard und der langjährige Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde aus diesem längst legendären Kreis hervor (JF 27/07). 1961 habilitierte sich Rohrmoser in Köln mit einer bahnbrechenden Arbeit über Hegel, die im Kern sein philosophisches Programm entwickelt: die Vermittlung zwischen Subjektivität und Verdinglichung. Ritter hatte selbst 1957 seine weltweit beachtete Studie über "Hegel und die Französische Revolution" vorgelegt. Gegen alle Desavouierungen Hegels im totalitären Zeitalter, namentlich gegen Karl Popper, lehrte Ritter ihn als den Philosophen der Freiheit und der Moderne verstehen.

Rohrmoser erwies sich als der treueste Ritter-Schüler, indem er diese Hegel-Auslegung aufnahm, er ging aber weit darüber hinaus: indem er die Religionsphilosophie und den Gedanken der Versöhnung als Zentrum der Hegelschen Metaphysik erkannte und die Krise und Dekadenz der Moderne herausarbeitete, die Hegel bereits scharfsinnig vorausgesehen hat. 1976 wurde er nach Dozenten- und Professorenjahren in Köln und Münster als Ordinarius für Sozialphilosophie an die Universität Hohenheim berufen, wo er seither ohne Unterbrechung wirkt: Die Emeritierung bedeutete für ihn keine nennenswerte Zäsur.

Schon vor annähernd vierzig Jahren diagnostizierte Günter Rohrmoser die Symptome einer tiefreichenden Kulturrevolution, die mit dem Jahr 1968 und dem nachfolgenden Terror der RAF offen zutage trat. Er war der einzige konservative Denker von Rang, der den Code der Linken entschlüsselte, ihre Widersprüchlichkeiten und das zu erwartende Desaster jahrzehntelang  voraussah und zu einer geistigen Wende aufrief. Seine Mahnungen und Impulse sind heute aktueller denn je. Dazu kommt sein Mut, der Mehrheitsmeinung entgegenzutreten. Rohrmoser ist, wie ihm SPD-Vordenker wie Peter von Oertzen oder Peter Glotz bescheinigten, ein gleichermaßen profilierter Liberaler und Konservativer. Er ist wohlverstanden der Philosoph eines freiheitlichen Gemeinwesens, der zugleich unermüdlich das Augenmerk darauf richtet, daß dieses nicht nur auf liberalistischen Fundamenten ruhen kann.

Der extremistischen Linken tritt er stets energisch und scharfsichtig entgegen. Rohrmoser ist zutiefst überzeugt, daß ein moderner Konservativismus, der einzig die Möglichkeit bietet, Nihilismus und Dekadenz - nach Nietzsche: die unheimlichsten Gäste - zu entrinnen, in seinem Zentrum die Versöhnung von Christentum und Moderne leisten muß.

Dabei ist das Christentum mitten in Europa längst zu der eigentlich "unbekannten Religion" geworden. Rohrmoser unternimmt seit einigen Jahren den atemberaubenden Versuch, mit Luther und Hegel dessen Kern für unsere Zeit freizulegen. Von hier her führt Rohrmosers Denken auf die Vermittlung zwischen Universalität und Partikularität: Es entwickelt die neue politische Philosophie, die die Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts in Gedanken zu erfassen vermag. 

Rohrmoser hat seine Wirksamkeit niemals auf den akademischen Elfenbeinturm beschränkt. Er reist seit mehr als vierzig Jahren unermüdlich durch das Land und legt seinen Hörern, Freunden und Gegnern die Einsichten der Philosophie zu Tag und Stunde dar: Dies bedeutete ein großes Opfer, doch Rohrmosers Temperament würde nichts anderes zulassen. Kein zweiter Zeitgenosse hat wie er Hegels Wort eingelöst, daß Philosophie "ihre Zeit in Gedanken erfaßt" sei; und wie Hegel verbindet er einen seismographischen Sinn für die Fragen der Gegenwart mit höchster philosophischer Kraft. Bedenkt man die vielfältigen öffentlichen Aktivitäten Rohrmosers, ist es um so erstaunlicher, daß er die Zeit fand, ein an Umfang und Qualität außerordentliches philosophisches Werk zu veröffentlichen: Er hat große und bedeutende Bücher vorgelegt, so über "Religion und Politik in der Moderne" (1989), als dieses Thema noch keineswegs en vogue war. In "Der Ernstfall" (1993) analysiert er, als andere noch vom "Ende der Geschichte" träumten, hellsichtig die Krise des Liberalismus, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts offenkundig wurde.

Dem Konservativismus in der Moderne widmete er im letzten Jahr eine wegweisende Monographie. Nietzsche hat er als "Diagnostiker der Moderne" eine umfassende Gesamtdeutung gewidmet, die ihresgleichen sucht (2000), und mit dem monumentalen Werk "Deutschlands Tragödie. Der geistige Weg in den Nationalsozialismus" (2002) eine einzigartige philosophische Durchdringung des Totalitarismus entwickelt.

Damit sind nur einige wenige Eckpunkte in Rohrmosers Werk benannt. So erstaunlich diese konstante Produktivität durch mehr als vier Jahrzehnte ist - noch erstaunlicher ist es, daß die Veröffentlichung eines Großteils seines Werkes noch aussteht. Sie wird von dem in Erlangen und Posen lehrenden Philosophen Harald Seubert für die nächsten Jahre vorbereitet. Damit wird Rohrmoser als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts sichtbar werden, dessen Lebensthema, die Verbindung und Versöhnung von Religion und Moderne, niemals eine dringendere Aktualität hatte als heute. Internationale Anerkennung hat Günter Rohrmoser vielfach gefunden: Höchsten Respekt, ja Verehrung genießt er in Mittel- und Osteu-ropa, vor allem in Rußland: Die Deutschen und die Russen sind in Rohrmosers Sicht die metaphysischen Völker, woraus deren Zusammenarbeit ihre Tiefendimension und ihre Dringlichkeit erfährt. 

Bei einem so profilierten Lebenswerk konnte Gegnerschaft und Anfeindung nicht ausbleiben. Dennoch geht Rohrmoser unbeirrt seinen Weg: Der brillante Rhetoriker, der streitbare Geist und der bedeutende Zeitgenosse, dem alle Allüren fern sind, der aber, ähnlich wie Hegel, eine Tradition von mehr als zweitausend Jahren hinter sich weiß, der liebenswürdige Freund in seiner tiefen moralischen Integrität wird zu seinem Geburtstag mit einer großen Festschrift geehrt. Sie ist in ihrer Bandbreite ebenso ungewöhnlich wie hinsichtlich Anzahl und Qualität der Beiträger. Beteiligt sind so bedeutende Geister wie Kurt W. Biedenkopf, Klaus von Dohnanyi, Rocco Buttiglione, Wolfhart Pannenberg, Robert Spaemann, Brigitte Seebacher und Gertrud Höhler. Der Titel ist Programm: Tamen! ("Dennoch!") - das letzte Wort Luthers (Kurzvorstellung unter "Frisch gepreßt", Seite 15).

Philipp Jenninger, Rolf W. Peter, Harald Seubert, Hrsg.: Tamen! Gegen den Strom. Günter Rohrmoser zum 80. Geburtstag. Dr. Neinhaus Verlag, Stuttgart 2007, gebunden, 640 Seiten, Abbildungen, 38 Euro

Foto: Günter Rohrmoser: Philosoph eines freiheitlichen Gemeinwesens, der zugleich unermüdlich das Augenmerk darauf richtet, daß dieses nicht nur auf liberalistischen Fundamenten ruhen kann


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