© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/07 30. November 2007

Drei Heimaten, sieben Weltmeere
Einem Pionier des modernen Romans zum 150. Geburtstag: Joseph Conrad führte in Europas finsteres Herz
Heinz-Joachim Müllenbrock

Joseph Conrad ist ein kosmopolitischer Literat par excellence. Am 3. Dezember 1857 in Berditschew in der russisch verwalteten ukrainischen Provinz Podolia als einziger Sohn patriotischer, zum polnischen Landadel gehörender Eltern geboren, wuchs der junge, literarisch interessierte Jo­seph T.K. Korzeniowski unter politisch widrigen, aber intellektuell anregenden Lebensumständen auf.

Schon als Jugendlicher trug er sich mit dem Gedanken, einmal zur See zu fahren; 1874 siedelte er sich in Marseille an und tat auf französischen Handelsschiffen Dienst. Während des mehrjährigen Aufenthaltes in Frankreich, das der junge Pole als seine zweite geistige Heimat empfand, intensivierte sich seine Berührung mit französischer Literatur. 1878 trat er zur englischen Handelsmarine über, für die er bis 1894 fuhr und es dabei bis zum Kapitän brachte. Bereits 1886 als britischer Staatsbürger naturalisiert, faßte er schon bald eine  neue Existenz als Schriftsteller ins Auge. In England, seiner dritten Heimat, wurde der nun unter dem Namen Joseph Conrad schreibende Pole im Medium seiner dritten, erst spät erlernten Sprache zu einem weltberühmten Autor.

Die ersten von Conrad veröffentlichten Romane, "Almayer's Folly" (1895) und "An Outcast of the Islands" (1896), erwecken bei flüchtigem Hinsehen den Eindruck, daß der Verfasser das Seemannsgarn eines Frederick Marryat oder James Fenimore Cooper weiterspinnen wollte, deren Bücher er schätzte. Aber trotz der Faszination durch das exotische Milieu, dessen Farbenreichtum er mit der Präzision eines Impressionisten zeichnet, wird bald sichtbar, daß bereits hier Conrads moralisches Sensorium die Feder führt, das primäre Antriebsmoment seines literarischen Schaffens. Die Hauptfiguren dieser beiden frühen Erzählungen, Almayer und Willems, sind nämlich keine Vorzeigegestalten westlicher Kolonialisierung, sondern korrumpierte Antihelden, die an der sittlichen Bewältigung ihrer Existenz scheitern.

Daß es Conrad vorrangig auf die moralische Sondierung menschlichen Daseins vor der Fassade des Abenteuerromans nach Art eines Robert Louis Stevenson oder Rider Haggard ankam,  bekräftigte sein nächster Roman "The Nigger of the Narcissus" (1897), der seine fruchtbarste Schaffensperiode einleitete. In dieser langen Novelle durchleuchtet  Conrad die beunruhigende Bandbreite der Gefühle und Haltungen von Menschen, die in Extremsituationen hineingestellt sind.

Im Vorwort zu "The Nigger of the Narcissus" hat der seinen literarischen Ehrgeiz jetzt offen bekundende Conrad sein schriftstellerisches Credo formuliert. Darin erhebt er, um die metaphysischer Gewißheit verlustig gegangene menschliche Existenz in ihrer ganzen Problematik auszuloten, eine rigorose Wahrheitssuche zur obersten Richtschnur, wobei er sich bewußt ist, daß Wahrheit immer nur annäherungsweise erreicht werden kann.

Um zumindest ihr momentanes Aufleuchten zu vergegenwärtigen, setzt Conrad, der die Auffassung vertritt, daß alle Kunst primär an die Sinne appelliere, auf einen der Eindrucksvielfalt des Universums gerecht werdenden sensualistischen Erkenntnisansatz. Insofern fallen bei ihm ästhetische und ethisch-moralische Belange zusammen. Als selbstkritischer Vertreter eines anspruchsvollen Kunstromans, wie ihn  zur gleichen Zeit Henry James kultivierte, erlegt er sich auch eine strenge stilistische Schulung auf, die ihn in seiner schriftstellerischen Praxis nach dem Vorbild von Flaubert und Maupassant beispielsweise das mot juste erheischen läßt, das bei ihm gelegentlich das Preziöse streift.

Conrads Wahrheitsstreben schlägt sich zumeist in einer komplexen Erzählstruktur nieder, wie sie in den nächsten Werken durch die Verbindung von Rahmenerzählung und Marlow als vermittelnder Erzählerfigur gekennzeichnet ist. In "Heart of Darkness" (1899), Conrads vielleicht bekanntester, auch im postkolonialen Zeitalter noch aktueller Erzählung, fährt Marlow in das Innere des Kongo und sieht sich mit der ihn desillusionierenden Aufgabe konfrontiert, zugleich das Innere des Mr. Kurtz, des Statthalters europäischer Expansion, zu erforschen.

Diese dämonische Gestalt, die Marlow auch zur Überprüfung seiner eigenen Wesensart zwingt, verkörpert in ihrem maßlosen Drang nach Reichtum die Korrumpierung der sittlichen Normen europäischer Kultur. So inszeniert diese zeitkritische Erzählung die Spannung zwischen dem hehren Anspruch der Europäer, den Eingeborenen zivilisatorischen Fortschritt zu bringen, und dem rücksichtslosen Gewinnstreben der Kolonialherren. Marlows Reise führt deshalb nicht nur in das Innere Afrikas, sondern gleichermaßen in das finstere Herz Europas.

Am virtuosesten hat Conrad seine komplexe Erzählstrategie im Dienst moralischer Wahrheitsfindung in "Lord Jim" (1900) gehandhabt. Ein junger, idealistisch gesinnter Seemann versagt bei einer Bewährungsprobe und bringt sich zusammen mit der weißen Besatzung in Sicherheit, als sein Schiff voller Mekka-Pilger zu sinken droht. Dieses Versagen wird Marlow zum Anlaß für eine weitgespannte Entdeckungsfahrt in das Innere Jims, die insbesondere dem Problem menschlicher Schuld nachgeht.

In einem höchst komplizierten, die chronologische Ereignisfolge aufbrechenden Erzählvorgang läßt Conrad, der den allwissenden auktorialen Erzähler schon nach vier Kapiteln verabschiedet, Marlow - zugleich Stellvertreter des Lesers - den Gründen für Jims Verfehlung nachspüren. In seinem Bedürfnis, hinter das Geheimnis von Jims Seelenlage  zu kommen, verläßt sich Marlow nicht nur auf eigene Beobachtungen, sondern zieht eine Vielzahl möglicher Gewährsleute hinzu; aufgrund dieser Standpunkttechnik ergibt sich ein Mosaik partieller Ansichten, die der Erzähler skrupulös gegeneinander abwägt. Detailaufnahmen, Perspektivenwechsel, Rückblende- und Synchronisierungstechnik, in denen sich das Zeitalter des Films ankündigt, verleihen diesem Prozeß eine dramatische Intensität. In der Artistik solcher literarischen Mittel spiegelt sich Conrads Modernität als Erzähler. Daß das von Jim entworfene Psychogramm trotz gewissenhaftester Bemühungen Marlows keine unabweisbaren Einsichten gestattet und die Gründe für Jims Fehlverhalten letztlich unaufgedeckt bleiben, zeigt, daß Conrad auch der zunehmenden weltanschaulichen Labilität seiner Epoche Ausdruck gab.

Öffentliche Belange spielen stärker in die nächsten Romane hinein, obwohl auch in ihnen Conrads Generalthema, der Konflikt zwischen personaler Integrität und opportunistischem Verrat daran als einer conditio humana, erhalten bleibt. In "Nostromo" (1904), seinem wohl ambitiösesten Werk, entwirft der Autor vor der exotischen Folie der südamerikanischen Republik Costaguana ein vielschichtiges zeitfühliges Panorama politisch-gesellschaftlicher Verstrickungen; dessen verwirrende Fülle an Figuren und Ereignissen dürfte allerdings nicht wenige Leser überstrapazieren. In ihrer leitmotivischen Funktion symbolisiert die Silbermine die Versuchung durch materielle Interessen, der Menschen verschiedenster Couleur erliegen.

In seiner äußeren Handlung, der ein Anschlag auf die Sternwarte von Greenwich im Jahre 1894 als historische Begebenheit zugrunde liegt, nimmt sich der Roman "The Secret Agent" (1907) wie eine Kriminalgeschichte aus - das Thema des Terrorismus verleiht ihr eine ominöse Aktualität. Der Blick in das  Milieu von Spionage und Gegenspionage dient aber nur der psychologischen Scharfeinstellung auf die moralischen Widersprüchlichkeiten im Verhalten von Anarchisten, Polizisten und Diplomaten. Conrads pessimistisches Menschenbild offenbart sich in der bedrückenden Erkenntnis, daß bei seinem kritischen Streifzug durch größere Teile der Gesellschaft niemand außer einem geistig zurückgebliebenen Jugendlichen ohne moralische Blessuren davonkommt.

"Under Western Eyes" (1911) verfolgt auf der Suche nach der wahren seelischen Verfassung Rußlands das zeitnahe Thema staatsfeindlicher Umtriebe eingehender in den sozialrevolutionären Milieus von St. Petersburg und Genf. Das Fazit, daß den Revolutionären dieselben Tugenden und Unzulänglichkeiten eigen sind wie den zaristischen Unterdrückern, bestätigt Conrads herben anthropologischen Realismus in einer weiteren, auf den Studenten Razumov zugeschnittenen Fallstudie. Eine illusionslose Menschensicht, erkenntnistheoretischer Skeptizismus, erzähltechnisches Raffinement und stilistische Überfeinerung dürften gemeinsam dazu beigetragen haben, daß Conrad keine breite Publikumsresonanz beschieden war. Erst spät, mit dem Erscheinen von "Chance" (1914), hatte er finanziellen Erfolg.

Am 3. August 1924 ist der erste bedeutende Romancier der Moderne in englischer Sprache in seiner Wahlheimat England gestorben.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.


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