© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/07 30. November 2007

Der Anfang vom Ende
Belgien: Politik und Bevölkerung diskutieren über das Ende des Königreiches / Kommt die Republik Flandern?
Georges Matelot

Vor zwei Wochen haben die Fußballverbandspräsidenten François De Keersmaecker und Jeu Sprengers ihr Interesse an einer in Belgien und den Niederlanden gemeinsam ausgetragenen WM 2018 bekundet. "Zwischen unseren Ländern gibt es keine Grenzen, aber viel Freundschaft", erklärten die beiden Sportfunktionäre anläßlich eines Treffens mit Fifa-Präsident Sepp Blatter. Die belgisch-niederländische Delegation verwies dabei auf die gemeinsame Fußball-EM 2000. Doch seither hat sich einiges verändert. "Für uns war es noch eine große Ehre, für Belgien zu spielen. Dieses Gefühl vermisse ich bei der heutigen Generation", klagte der frühere belgische Nationaltorhüter Jean-Marie Pfaff in der Welt, als klar war, daß die belgische Fußballmannschaft auch bei der EM 2008 nicht dabeisein wird. Auch daß es in vier Jahren, wenn das Fifa-Exekutivkomitee über den Zuschlag für die WM entscheidet, den Königlich-Belgischen Fußballverband noch gibt, wird immer unsicherer.

"Belgien ist auf dem Weg, den die Tschechoslowakei 1992 beschritten hat. Am Ende dieses Weges standen die Tschechische und die Slowakische Republik. Es ist durchaus denkbar, daß es bald auch eine Flämische Republik gibt", orakelte die Wiener Presse angesichts der Tatsache, daß der von König Albert II. mit der Regierungsbildung beauftragte flämische Christdemokrat Yves Leterme bislang keinen Erfolg hatte. Seit der Parlamentswahl im Juni ist das bisherige liberal-sozialistische Kabinett von Guy Verhofstadt nur noch geschäftsführend im Amt.

Das bislang Undenkbare - die Auflösung des 1831 geschaffenen Königreichs Belgien - zu fordern, wagten vorige Woche die Vertreter der flämisch-rechtsnationalen Oppositionspartei Vlaams Belang (VB) im belgischen Parlament. Die anderen Abgeordneten aus dem niederländischsprachigen Flandern und sämtliche aus dem frankophonen Wallonien stimmten zwar im zuständigen Parlamentsausschuß gegen die VB-Gesetzes-initiative. Doch eine Woche zuvor fanden sich die flämischen Parlamentarier erstmals zu einer parteiübergreifenden Initiative gegen die Wallonen zusammen: Im Innenausschuß votierten sie für die Aufteilung des umstrittenen Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV). Die zweisprachige Region Brüssel wird ein eigenständiger Wahlkreis, in dem wie bisher flämische und wallonische Parteien kandidieren. Die Provinz Flämisch Brabant (Bezirke Halle-Vilvoorde und Löwen) bildet künftig einen Wahlkreis, wo nur flämische Parteien antreten. Bei einer Umfrage unter Frankophonen antworteten anschließend 43 Prozent der Befragten, dies sei "der Anfang der Zerschlagung Belgiens".

Theoretisch hätte Letermes CD&V zusammen mit der wallonischen Schwesterpartei CDH und den flämischen (VLD) und wallonischen Liberalen (MR) eine komfortable Mehrheit von 80 Mandaten im 150sitzigen föderalen Parlament. Aber der Hauptstreitpunkt, die von den Flamen geforderte Staatsreform, harrt weiter einer Lösung. Denn Leterme muß dabei unter anderem auf seine Wahlkampfversprechen und die bürgerlich-nationale Neue Flämische Allianz (N-VA) Rücksicht nehmen, die mit der CD&V in einem Wahlbündnis vereint ist. Die flämischen Verhandlungsführer verlangen mehr Selbstbestimmung über die Staatsfinanzen und die Sozialsysteme ihrer inzwischen reichen Region. Denn das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner (BIP) liegt in Flandern etwa 17 Prozent über dem EU-Durchschnittswert.

Wallonien liegt hingegen etwa 15 Prozent unter dem EU-Mittelwert. Während in einigen Kreisen Flanderns quasi Vollbeschäftigung herrscht, liegt die Arbeitslosenquote in Wallonien bei 20 Prozent. Alle Politiker Walloniens lehnen daher eine Staatsreform (oder gar die Aufspaltung Belgiens) ab, weil dann weniger als die derzeit über zwölf Milliarden Euro jährlich in ihren Landesteil fließen würden.

Finanzfragen waren daher eines der Themen einer VB-Konferenz am 24. November im Kongreßsaal belgischen Parlaments in Brüssel. Unter dem Motto "Volk werde Staat" wurde mit Politikern, Medienvertretern und Wissenschaftlern über konkrete Schritte zur Schaffung eines unabhängigen Flanderns diskutiert. Der britische Publizist John Laughland referierte dabei über außenpolitischen Aspekte. Wenn man der Auflösung Jugoslawiens und einer Abspaltung des Kosovo von Serbien zustimme und kleine Länder wie Luxemburg oder Estland eine Existenzberechtigung hätten, könne man Flandern nicht die Eigenständigkeit verweigern. Dennoch erwarte er internationalen Widerstand, denn die EU habe sich gegenüber Unabhängigkeitsbestrebungen oft "dubios" verhalten und nie einheitliche Maßstäbe angelegt. Flandern empfahl der eurokritische Laughland den EU-Austritt und bilaterale Verträge nach dem Vorbild der Schweiz.

Der Journalist Jörg Fischer von der JUNGEN FREIHEIT wies auf Unterschiede zwischen den Fällen Tschechoslowakei und Belgien hin. Während die etwa 200.000 Deutschen bei der Teilung 1992 über die ganze Tschechoslowakei verstreut lebten, sei das bei den Deutschen in Belgien anders. Hier gibt es innerhalb Walloniens die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens (DG). Sie ist mit etwa 73.000 Einwohnern die kleinste der drei Gemeinschaften in Belgien. Die DG wolle sich in den Konflikt nicht einmischen, um die seit 1963 gewonnenen Minderheitenrechte nicht zu gefährden. Doch bei einem Zerfall Belgiens stellten sich einige Fragen neu.

Der 1956 geschlossene völkerrechtliche Vertrag, in dem die Bundesrepublik Deutschland die Zugehörigkeit Eupen-Malmedys zu Belgien anerkannte, bliebe weiter gültig. Aber wenn den Flamen das Selbstbestimmungsrecht zugestanden würde, könne man es den Deutschen kaum versagen. Allerdings wäre es für sie sicher attraktiver, sich dem reichsten EU-Land, dem Großherzogtum Luxemburg, anzuschließen. Doch die DG ist derzeit kein geschlossenes Gebiet, nur im Süden gibt es eine schmale Grenze mit Luxemburg. Malmedy in der Mitte gehört zur Französischsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Doch all diese Fragen lassen sich sicherlich lösen - der Hauptknackpunkt aber bleibe Brüssel.

Und über die letztlich wohl entscheidende Frage, was aus der belgischen Hauptstadt wird, wurde auf der VB-Konferenz daher heiß diskutiert. Ein unabhängiges Flandern ohne Brüssel wäre staatsrechtlich sicher die einfachste Lösung. Doch was geschieht dann mit den etwa 150.000 Flamen dort? Die Wirtschaft ist eng miteinander verflochten. Und welcher flämische Nationalist will schon eine Handbreit Heimatboden hergeben?

Wer derzeit durch Flandern fährt, sieht immer mehr flämische Fahnen und Autos, die statt dem "B" für Belgien das Landeskennzeichen "VL" für Flandern angebracht haben. In Brüssel hingegen hängen aus zahlreichen Wohnungen belgische Flaggen. Werden sich die zu über 80 Prozent Französisch sprechenden Einwohner der Millionenmetropole mit Minderheitenrechten und einem Status à la Hansestadt Hamburg zufriedengeben, wie VB-Politiker vorschlagen? Eric Defoort, N-VA-Vize und Chef der parteiübergreifenden Flämischen Volksbewegung (VVB), zitierte hierzu den früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors: "Die Realität macht mich manchmal pessimistisch, aber der Wille macht mich optimistisch!"

Für das ohne Brüssel kaum lebensfähige Wallonien gäbe es zumindest einen Trost: Laut einer Umfrage würde die Mehrheit der Franzosen die Wallonen mit offenen Armen empfangen.

Foto: Vlaams Belang-Konferenz im Kongreßsaal des belgischen Parlaments: "Volk werde Staat"


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