© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/07 30. November 2007

Nachbeben zur Fußballweltmeisterschaft
Integration: Die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin widmet sich dem "Patriotismus in der multikulturellen Gesellschaft" / Verfassungspatriotismus als Gegenentwurf
Fabian Schmidt-Ahmad

Gewissermaßen als ein reflexives Nachbeben zur Fußballweltmeisterschaft 2006 ging die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung in der vergangenen Woche auf einer Diskussionsveranstaltung einer Idee nach, der man bisher selten eine Veranstaltung widmete - "Patriotismus in der multikulturellen Gesellschaft".

Gemeinhin besteht in diesem Umfeld die Neigung, "Patriotismus" nur als einen Aspekt von Nationalchauvinismus und Völkermord zu sehen. Aber auch hier fällt dessen Funktion als integrierende Kraft auf: "Was ich nicht bestreiten will, sind nationale Erfolge der Integration", wie Nina Sauermann feststellte, Autorin des Buches "Gesellschaft ohne Schwarz-Rot-Gold". Allerdings verurteilte auch sie - wie die übrigen Teilnehmer - die Vorstellung der Nation als Gemeinschaft: "In dem Moment, wo wir Leitkultur fordern, heißt das, wir wollen das andere nicht. Das heißt auch, wir machen die Grenzen dicht." Gewissermaßen in dem Versuch, die integrierende Eigenschaft zu okkupieren, jedoch ohne irgend jemanden auszugrenzen, stellte Sauermann den Gegenentwurf des "Verfassungspatriotismus" vor.

Anders als der gewöhnliche Patriotismus, der noch vor jeglicher politischer Ordnung auf einen "Mythos der Nation" verweisen kann, soll der "Verfassungspatriotismus" erst durch diese politische Ordnung selbst gebildet werden. Dies erscheint Sauermann notwendig, will sie nicht vom Prinzip der kulturellen Indifferenz abweichen. Entsprechend fordert sie die "Loslösung der politischen Ebene von allen Subkulturen". Dies klingt sehr nach der liberalistischen Vorstellung von Gesellschaft als einer Vertragsgemeinschaft. Wenn Sauermann daher von ihrer Gesellschaftskonzeption als einem "System ohne Wahrheit" spricht, "das vor allem konzipiert ist als freiwilliger Zusammenschluß" und damit einer ständigen Verhandlung ausgesetzt ist, dann drückt sich in der Tat auch genau diese Vorstellung aus. Damit ist der Verfassungspatriotismus aber auch der republikanischen Kritik am Liberalismus ausgesetzt: ein letztlich abstraktes und weltfremdes Konstrukt zu entwickeln, welches für die Menschen keine bindende Kraft entwickeln kann.

Diesem Vorwurf widerspricht Sauermann. Für sie persönlich sei der Verfassungspatriotismus nicht "blutleer", sondern sie beziehe sich auf Dolf Sternberger, der angesichts der bundesrepublikanischen Entwicklung der Nachkriegszeit von einem "zweiten Patriotismus" sprach. "Sternberger beobachtete, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie sich die Organe leibhaftig regten, die dort entworfen." Nach Sauermann scheint sich also die politische Kultur nach den Gesetzen eines Landes zu richten und nicht umgekehrt. Tatsächlich dürfte aber das Gegenteil der Fall sein. Dann ist "Verfassungspatriotismus" aber nichts anderes als dasjenige, was Max Weber als "traditionelle Herrschaft" bezeichnet: eine Ordnung, die sich aus dem vorpolitischen Raum des Mythos heraus entwickelt - in diesem Fall das Grundgesetz aus der Idee der deutschen Nation.

Will Sauermann daher den Verfassungspatriotismus als wirkmächtiges System etablieren, so wird ihr nichts anderes übrigbleiben, als sich auf einen neuen Mythos zu beziehen. Tatsächlich entwickeln Dolf Sternberger, Jürgen Habermas und die verschiedenen Denker diese Konstruktion in Bezug zu einem ganz bestimmten Ereignis. So sei die Suche als Alternative zum überkommenen Patriotismus "vor allem von der Frage motiviert, wie konstruieren wir Gesellschaft unter dem Eindruck der deutschen Geschichte?"

Es ist das "permanente Credo des Nicht-Vergessens der deutschen Geschichte", das Sauermann anmahnte. Holocaust, Shoa, Auschwitz - sprach Sauermann vom Bereich vorpolitischer Ordnung, so waren dies die einzigen Bezugspunkte, die sie anbot. Nur zeichnet es die Idee von Nation eben aus, daß sie dem einzelnen ein positives Bild von sozialer Einheit vermittelt. Die Vorstellung einer Verbrechensgemeinschaft, die sich aufgrund ihrer solchermaßen diskreditierten Kultur in einen abstrakten, akulturellen und damit letztlich unmenschlichen Verfassungspatriotismus flüchtet, kann dagegen nur das Gegenteil erreichen.

Nina Sauermann: Gesellschaft ohne Schwarz-Rot-Gold. Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007, broschiert, 108 Seiten, 49,90 Euro


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