© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/07 23. November 2007

Pankraz,
R. Descartes und das Erbe der Ahnen

Hier öffnen die Toten den Lebendigen die Augen." So steht es - in lateinischer Sprache - über dem Eingangstor der alten Bibliothek von Murcia, einer recht ungemütlichen, wüstenhaft heißen Großstadt im Südosten Spaniens, die aber eine der größten Universitäten des Landes beherbergt. Der Spruch ist großartig und rechtfertigt jeden Toten-  bzw. Ahnenkult, den die Völker betreiben bzw. früher betrieben haben. Ohne das Eingedenken der Toten wären wir nichts. Freilich genügt es nicht, einfach der Toten zu "gedenken", ihnen einen Kranz aufs Grab zu legen, sondern wir müssen sie voll ernst nehmen, uns unermüdlich und so genau wie möglich über das, was sie umtrieb, informieren.

Von selbst versteht sich das leider längst nicht mehr. Seit der frühen Neuzeit gibt es im Abendland ein keckes, ja geradezu unverschämtes Sich-lustig-Machen über das Wissen der Ahnen, das angeblich zu neunundneunzig Prozent "Afterwissen", "Aberglaube", haltlose Spinnerei gewesen sei. An sich große Gelehrte des 16. Jahrhunderts wie Francis Bacon oder René Descartes wollten altehrwürdige Bibliotheken wie die von Murcia am liebsten abreißen und ihre Bestände verbrennen, damit endlich die "reine Wissenschaft" zum Zuge kommen könne.

Auch die Politik meldete sich mit derlei Mißtönen zu Wort. Thomas Jefferson, der amerikanische Gründervater, ein frommer Christ, Sklavenhalter und Heuchler, hielt die "Macht aus den Gräbern" für die Hauptursache dafür, daß Freiheit und Demokratie so schlecht vorankämen. "Wir dürfen die Toten nicht zu Herren über die Lebenden machen", predigte er unermüdlich. Sämtliche Gesetze und Einrichtungen sollten, ohne Ansehung ihres "ehrwürdigen" Alters, jederzeit zur vollen Disposition der Lebenden stehen. Für das "alte Europa" hatte Jefferson nur Verachtung übrig, eben weil es, wie er meinte,  vor der Macht aus den Gräbern ständig in die Knie ging.

Mittlerweise hat das offizielle Europa, speziell Deutschland, in puncto Ahnenverachtung voll mit Amerika gleichgezogen, wenn nicht es überholt. Über die Ahnen, die "alten Germanen", darf man sich hierzulande nur noch äußern, indem man sie lächerlich macht. Und näher an die Gegenwart heran gerät jeder Blick auf die Vorfahren zum reinen Polizistenblick. Unsere Vorfahren waren, so tönt es landauf, landab, Verbrecher, die man noch nachträglich kriminaltechnisch behandeln und gnadenlos aburteilen muß.

Es ist eine schier unglaubliche Deformation menschlichen Verhaltens, denn natürlich gilt nach wie vor und wie eh und je: Die Toten öffnen den Lebendigen die Augen. Und es sind nicht irgendwelche Toten, sondern "unsere" Toten, von denen wir abstammen und deren Gene wir in uns tragen. Die Kultur, in der wir uns wie selbstverständlich bewegen, wurde von ihnen geschaffen, unsere Landschaften und Städte sind unleugbar "ihre" Landschaften und "ihre" Städte, wir haben sie von ihnen geerbt und sind, wie alle Erben, dazu verpflichtet, die Bestände zu wahren und respektvoll zu mehren, sie jedenfalls nicht zu verschleudern.

"Sie öffnen uns die Augen" - das meint keineswegs einen bloß intellektuellen Vorgang, dergestalt daß wir also in die Bibliothek gehen und die Schriften der Toten lesen, sie studieren und daraus Schlußfolgerungen ziehen. Sondern das Augenöffnen durch die Begegnung mit den Toten findet auf buchstäblich allen Ebenen des Lebens statt, es ist unsererseits eine Seelenerweiterung im ernstesten Sinne. Wir werden empfindlich für die Stimmen aus der Tiefe, schärfen die Sinne und das Gefühl für das, was zwischen den aktuellen Verabredungen ist und uns in ewige Zusammenhänge einbindet.

Die Chinesen, das Volk mit der intensivsten Ahnenverehrung, haben dementsprechend seit Urzeiten einen unerhört reichen Ahnenkult entfaltet und ihn auch bis heute durchgehalten. Es gibt selbst in modernsten Haushalten Ahnenhallen und Ahnentafeln, oder die Namen der Ahnen sind in Zimmeraltare eingeschnitzt, vor denen man Opfer in Form von Räucherstäbchen oder Blumengebinden darbringt. Theologen geben manchmal der Vermutung Ausdruck, bei den Chinesen gebe es gar keinen Gott, keine Götter, sondern nur Ahnen.

Indes, die chinesische Tradition kennt durchaus transzendente Sphären, nur waltet in ihr die Überzeugung, daß der Zugang zu ihnen allein durch die Vermittlung der Ahnen und ihres geistigen Erbes möglich sei. Der untilgbare Respekt vor den Ahnen ist gleichsam das Nadelöhr, durch das man hindurch muß, um ins Himmelreich zu gelangen. Denn allein die Reihe der Ahnen führt zu jenen Anfängen zurück, wo der Bund zwischen Leben und Transzendenz einst geschlossen wurde. Indem wir die Ahnen ehren, versichern wir uns unserer Menschlichkeit, erkennen wir die Gesetze der Sittlichkeit und geraten in die Lage, Familie und Staat dauerhaft zu festigen.

Der Weg des Abendlands zu Transzendenz und Sittlichkeit verlief bekanntlich anders als der chinesische, als Vermittler fungierten nicht primär die Ahnen, sondern künstliche Institutionen wie die Kirche, oder man überließ das Geschäft, wie bei den Protestanten, dem starken einzelnen, der im Glauben an die Verheißungen der Schrift und die göttliche Gnade ganz allein, als Person und Zentralmonade, seinem Schöpfer gegenübertrat.

Ahnenverehrung und Hoffnung auf Augenöffnung durch die Toten sind aber nie ganz gewichen, ja, in neuester Zeit macht sich sogar eine deutliche Wiederentdeckung dieser Lebensnotwendigkeiten bemerkbar. Man fängt an, nach seinen Wurzeln ("roots") Ausschau zu halten, nicht nur unter Afro-Amerikanern, sondern zunehmend auch in Deutschland. Immer mehr Fernsehsendungen abseits des Politgetöses und der PC-Orgien widmen sich dem Thema. Alte Kulturpraktiken werden liebevoll erforscht und begeistert nachgespielt.

Und man erkennt: Die Ahnen waren weder Dummköpfe noch Verbrecher, vielmehr wahre Augenöffner. Man kann viel von ihnen lernen, vielleicht sogar das Wichtigste.


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