© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/07 23. November 2007

Angst vor grenzenloser Kriminalität
EU: Vor der Ausweitung des Schengen-Abkommens am 21. Dezember wächst bei der Polizei die Sorge
Karl Schwarz

Über drei Jahre ist sie bereits her, die EU-Osterweiterung um acht ehemalige Ostblock- und zwei Mittelmeerstaaten. Doch erst am 21. Dezember dieses Jahres wird ein wesentlicher Teil des europäischen Systems auch auf viele der neuen Staaten ausgedehnt. An diesem Tag wird das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) - besser bekannt als Schengen-Abkommen - auf die neuen EU-Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien und Malta (nicht auf Zypern, Bulgarien und Rumänien) ausgedehnt.

Damit wird die Erweiterung auf einem wichtigen Gebiet vollendet und - so die Befürworter - ein logischer Schritt in Richtung eines zusammengewachsenen Europas getätigt. Schließlich garantiert das 1985 geschlossene SDÜ bereits seit über 20 Jahren den kontrollfreien Personengrenzverkehr zwischen fast allen EU-Staaten - mit Ausnahme des Großbritanniens und Irlands, die dem Abkommen nicht beigetreten sind, und zuzüglich der Nicht-EU-Staaten Island und Norwegen - nahezu problemlos. Und selbst die Schweiz wird voraussichtlich im November 2008 Schengen beitreten.

Da die verbliebenen Defizite der östlichen Staaten sehr gering seien, sei die Sicherheit keinesfalls beeinträchtigt, und die Abwicklung werde daher problemlos verlaufen, hieß es aus Brüssel zu der jetzt anstehenden Erweiterung. Lediglich an manchen Flughäfen seien noch Umbauten erforderlich, um Schengen- von Nicht-Schengen-Passagieren zu trennen. Diese Maßnahme sei jedoch ohnehin erst ab Ende März 2008 erforderlich, da im Dezember ja zunächst nur die Land- und Seegrenzen freigegeben werden sollen.

Die Erweiterung der Schengen-Grenzen wird von einigen bereits seit langem sehnsüchtig erwartet: Zum einen von der Wirtschaft, welche die innereuropäischen Kontrollen als wirtschaftlichen Nachteil sieht, zum anderen von all jenen, die die EU nach wie vor für zu kompliziert und fragmentiert halten. Sie versprechen sich vom Wegfall der Kontrollen ein stärkeres Zusammenwachsen der Staaten.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte vor diesem Hintergrund unlängst in Brüssel, der Wegfall der Grenzkontrollen sei für Länder, die jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang gelebt hätten, von hoher psychologischer und politischer Bedeutung. Darüber hinaus sei es für Deutschland ein "großes Glück", daß demnächst alle Grenzen des Landes frei passierbar seien. Doch je näher der 21. Dezember rückt, desto lauter werden die warnenden Stimmen.

So zeigte sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP) bereits vor der endgültigen Entscheidung in der vergangenen Woche besorgt über den "deutlich zu frühen" sowie "unverantwortlichen" Zeitpunkt des Kontrollwegfalls und äußerte scharfe Kritik. Europa verfüge schließlich noch nicht über die notwendigen Fahndungsmöglichkeiten, weshalb die Polizei in voller Stärke im Grenzraum bleiben müsse. Ferner könne man von einem Anstieg der Kriminalität ausgehen, da die Verbrecher sich ohne Kontrollen in größerer Sicherheit wiegen würden, so die Gewerkschaft.

Während infolge derartiger Einschätzungen die Grünen in den vergangenen Tagen von "Schreckensszenarien", "Legenden" und "Übertreibungen" sprachen, legte der sächsische GdP- Chef Matthias Kubitz unlängst nach. Um der wachsenden Kriminalität zu begegnen, müsse ein "mobiler Kontrollschleier im grenznahen Raum geschaffen werden". Nur so sei es möglich, den seit der Wende geschaffenen Wohlstand der Bürger im Osten angesichts der bestehenden Wohlfahrtsgrenze zu erhalten.

Josef Scheuring, Vorsitzender vom GdP Bezirk Bundespolizei, ging sogar so weit, eine ganze Liste an Verbrechen zu nennen, die seiner Einschätzung nach bald zunehmen könnten. Menschenhandel, Zollhinterziehung, Auto-Diebstahl, illegale Ausfuhr von Kulturgütern und nicht zuletzt noch umfassendere illegale Beschäftigung seien absehbar. Um dies gegebenenfalls verhindern zu können, dürfe es nicht zu dem für 2008 geplanten Personalabbau kommen, dem beispielsweise alleine in Sachsen 1.220 von 3.040 Beamtenstellen zum Opfer fallen sollen, erläuterte Scheuring.

Er erinnerte außerdem daran, daß die EU selbst entschieden habe, "die Grenz­öffnung aus Sicherheitsgründen erst dann umzusetzen, wenn das Schengener Informationssystem II und damit ein umfassender Austausch von Polizei- und Justizdaten zwischen den europäischen Staaten eingerichtet" sei. Nun würden diese Vorgaben allerdings von außenpolitischen Erwägungen verdrängt.

Skeptisch äußerte sich auch der sächsische Bundestagsabgeordnete Henry Nitzsche (parteilos). "Mit den offenen Armen des Schengener Abkommens und der EU werden die Bürger der sächsischen Grenzregion in den Würgegriff genommen", fürchtet Nitzsche, der von der Bundesregierung wissen möchte "inwieweit Prognosen über die Entwicklung der Schwarzarbeit und der sonstigen Kriminalität im Vorfeld erstellt und berücksichtigt wurden".

Ob die Folgen der Grenzöffnung nun tatsächlich derart negativ ausfallen werden, läßt sich wenige Wochen vor dem Inkrafttreten des SDÜ im Osten nicht abschließend entscheiden. Klar ist lediglich, daß Deutschland in beiden Fällen wohl als erstes und freilich am stärksten betroffen sein wird. Darum bleibt den Bürgern lediglich, das Beste zu hoffen und darauf zu vertrauen, daß die Sicherheitsbehörden weiterhin ihr Möglichstes tun werden und die Wirtschaft die Chancen nutzt. Optimistisch mag dabei stimmen, daß auch die eigentliche Ost-Erweiterung 2004 nicht den prognostizierten Kriminalitätsanstieg mit sich brachte - pessimistisch macht demgegenüber jedoch der Gedanke, daß erst die Schengen-Erweiterung die Möglichkeiten bringen könnte, die Verbrecher wirklich brauchen.

Foto: Gemeinsame Grenzkontrolle von deutscher und polnischer Polizei in Frankfurt an der Oder: "Mobiler Kontrollschleier"


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen