© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/07 23. November 2007

Doppelte Vergangenheit
Gedenkpolitik: Am Beispiel des Lagers Sachsenhausen zeigt sich, wie schwer es ist, gleichzeitig an die Opfer der beiden deutschen Diktaturen zu erinnern
Ekkehard Schultz

Bis heute gibt es keine eindeutige Antwort darauf, wie die zahlreichen Konflikte an Gedenkorten mit doppelter totalitärer Vergangenheit - das heißt an Schauplätzen von nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen - auch nur annähernd gelöst werden können.

Denn oftmals sind die Fronten zwischen den unterschiedlichen Akteuren bereits seit Jahren verhärtet. Die Opfer der kommunistischen Diktatur beklagen, nur am Rande wahrgenommen zu werden und in einer Hierarchie weit unter den Opfern des Nationalsozialismus zu stehen. Letztere befürchten wiederum den Verlust alter Positionen und werfen ihren vermeintlichen Kontrahenten vor, auch ehemaliger "NS-Peiniger" gedenken zu wollen. Besonders konfliktreich waren und sind bis heute die Auseinandersetzungen im brandenburgischen Sachsenhausen.

Die Historikerin Petra Haustein hat in ihrem Buch "Geschichte im Dissens", das Ende 2006 im Leipziger Universitätsverlag erschienen ist, die Entwicklung dieser Debatten und deren Folgen in den Jahren zwischen 1990 und 2000 ausführlich analysiert. Zum besseren Verständnis der unterschiedlichen Positionen und Interpretationen zum angemessenen Gedenken in Sachsenhausen hat sie ausführliche Interviews mit den dortigen Akteuren der Opferverbände der nationalsozialistischen wie der kommunistischen Diktatur geführt. Einen Teil ihrer Schlußfolgerungen stellte Haustein in der vergangenen Woche in der Gedenkbibliothek für die Opfer des Stalinismus in Berlin vor. Die Veranstaltung fand anläßlich eines Erinnerungsabends an die im März dieses Jahres verstorbene langjährige Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950 e.V., Gisela Gneist, statt. 

Haustein ging daher zunächst ausführlicher auf die Biographie Gneists ein. 1930 als Gisela Dohrmann in Plau am See geboren, verbrachte sie ihre Kindheits- und Jugendjahre in Wittenberge. Doch schon wenige Monate nach Kriegsende sollte eine Unterschriftenliste für eine noch zu gründende liberale Partei in der SBZ sowie eine Denunzierung durch den ehemaligen HJ-Führer ausreichen, um sie wegen vermeintlicher Gründung einer "konterrevolutionären Organisation" zu verhaften.

Damit begann ein mehrjähriger Leidensweg durch die GPU-Keller und Gefängnisse in Brandenburg/Havel, Neustrelitz und schließlich im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen. Die schrecklichen Erlebnisse an diesen Orten und der Tod vieler Freunde veranlaßten Gneist zu dem festen Vorsatz, diese Erinnerungen als Augenzeugin nie sterben zu lassen, sondern sie der Nachwelt zu vermitteln.

Nach ihrer Entlassung aus Sachsenhausen zu Beginn des Jahres 1950 nahm sie daher unverzüglich Kontakte zu Angehörigen der Opfer auf und informierte sie über das Schicksal von deren Angehörigen. Ab 1969 arbeitete Gneist als Mitarbeiterin an der Hamburger Universität. Dort erlebte sie die Folgen der 68er-Bewegung hautnah mit, als sich in Hamburg besonders radikale politische Gruppen bildeten. Hier waren die Verbrechen des Kommunismus kein Thema, sie wurden als gerechtfertigte Strafe für die Verbrechen des Nationalsozialismus gewertet.

Stets bemühte sich Gneist zu dieser Zeit wie auch in den kommenden Jahren darum, diesem einseitigen Geschichtsbild Gegeninformationen entgegenzustellen, mußte sich jedoch dafür oft selbst als "Kalte Kriegerin" beschimpfen lassen. In den siebziger und achtziger Jahren stellten die kommunistischen Nachkriegsverbrechen auch in der westdeutschen Gesellschaft kaum noch ein Thema dar.     

Erst mit dem Ende der DDR und der Entdeckung der Massengräber mit Opfern des Lagers Sachsenhausen zwischen 1945 und 1950 im März 1990 konnte das lange verdrängte Thema wieder einer größeren Öffentlichkeit nähergebracht werden. Wiederum nahm nun Gneist die Kontakte nach Wittenberge zu ehemaligen Haftkameradinnen auf und veröffentlichte deren persönliche  Erinnerungen. 

Doch seit Mitte der neunziger Jahre stellte sich nicht nur bei Gneist erneut ein Gefühl der Enttäuschung und Resignation ein. Die Ursachen dafür waren vielschichtig: Die bürokratischen Hürden in den sogenannten Rehabilitationsgesetzen spielten ebenso eine Rolle wie die einseitige Konzentration zahlreicher Medien - aber auch von Politik und Gesellschaft - auf das Thema Rechtsextremismus.

Von seiten der NS-Opfer von Sachsenhausen wurde nun vermehrt die Sorge um eine Revision des gesamten Geschichtsbildes ins Spiel gebracht, ebenso die Furcht vor einer vermeintlichen "Täterehrung". Alte Theorien und Vereinfachungen, beispielsweise daß die Lager nach 1945 doch in erster Linie Stätten der Entnazifizierung gewesen seien, gewannen gesellschaftlich wieder an Boden. Auch die Kritik am Antifaschismus der DDR wurde nun von vielen NS-Opfern als Angriff auf die eigenen Grundpositionen empfunden und zurückgewiesen. Diese Haltung hat sich bis heute - obwohl es inzwischen ein Museum für die Speziallager-Opfer in Sachsenhausen gibt - nur wenig geändert.  

Haustein zog die Bilanz, daß eine Auflösung dieser Konflikte auch in den kommenden Jahren illusionär sei. Denn man dürfe deren Wurzeln keineswegs nur in einer durchaus bestehenden Opferkonkurrenz sehen, sondern ebenso in sich mehr oder weniger gegenseitig ausschließenden Biographien, Geschichtsbildern und Betrachtungsweisen aktueller politischer Ereignisse zwischen der überwiegenden Zahl von NS- und Kommunismus-Opfern. Wichtig sei jedoch, so Haustein, die unterschiedlichen Positionen gegenseitig zu ertragen und zumindest eine grundsätzliche Akzeptanz herzustellen. Immerhin sei nach 1990 die Möglichkeit gegeben, die Konflikte in einem offenen Meinungsstreit auszutragen. Hier dürfe es freilich keine Einseitigkeit zuungunsten der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft geben. Als Maßstab müßten vielmehr die Prinzipien des Meinungspluralismus dienen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen