© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/07 23. November 2007

Gefährliche Doppelmoral
Wolfgang Thierse: Die Unfähigkeit zur Selbstkritik gehört zum System
Michael Paulwitz

Der Sturm der instrumentalisierten und instrumentalisierenden Entrüstung, den Wolfgang Thierse mit seinem späten Tiefschlag gegen Helmut Kohls Privatsphäre ausgelöst hatte, ist schnell wieder abgeklungen. Tagelang machte die diskutierende Klasse, von Parteichef und Kanzlerin bis zum Hinterbänkler, vielstimmig das Private zum Politischen, um scheinheilig zu beteuern, daß das Politische vor dem Privaten haltmachen müsse.

Thierse also, der gute Mensch vom Prenzlauer Berg, konnte es nicht lassen, die Rücktrittsbegründung seines Parteifreunds Müntefering dafür zu nutzen, Altkanzler Kohl wegen dessen Umgangs mit dem Leiden seiner Ehefrau abzuwerten. Gern ergriff die Union die Gelegenheit, dem Koalitionspartner eins mitzugeben: "unwürdig", "geschmacklos", "widerlich", "charakterlos", "an der Grenze zur Niedertracht", hallte es aus allen Ebenen zurück. Auch die verzweifelt in die Medien drängende FDP ließ sich nicht lumpen.

Den Vogel schoß Thomas Strobl ab, Generalsekretär der CDU Baden-Würt­tembergs, dem der unqualifizierte Angriff auf Helmut Kohl gerade recht kam, um ein wenig an dessen Denkmal als "Kanzler der Einheit" zu pinseln: Ohne selbigen säße Thierse ja noch immer "im Dunkeln", nämlich "hinter Mauer und Stacheldraht". Erwin Huber stopfte auf seiner ersten Parteitagsrede als CSU-Chef diese Granate gleich als willkommene Munition in seine Wahlkampfkanone: Thierse "hätte die Meinungsfreiheit nicht, wenn es nicht einen Helmut Kohl gegeben hätte".

War da noch was mit Maueröffnung und Montagsdemos? Huber instrumentalisierte die Empörung über die Instrumentalisierung des Privaten zur öffentlichen Geschichtsklitterung. Wo Politik auf dem Boulevard stattfindet, bleiben Fakten auf der Strecke. Man ist versucht, in den Zornesruf des spanischen Königs Juan Carlos einzustimmen, der wiederholt als Vergleichsgröße für den Thierse-Fauxpas herhalten mußte: Warum halten sie alle nicht einfach mal "die Klappe"?

Keiner hätte bescheidenes Schweigen freilich so bitter nötig wie Thierse. Mit seinem Interview in der Leipziger Volkszeitung hat der Bundestagsvizepräsident, den das Satiremagazin Titanic ob seiner täppischen Einfalt schon mal als "Ossi-Bär" karikiert hat, eine jämmerliche Figur abgegeben: erst mit seiner plumpen Invektive auf Kohls - und Münteferings - Kosten, dann mit seinen unbeholfenen Versuchen, sich herauszureden und die Schuld auf die Redakteure zu schieben, schließlich mit seiner umgehend relativierten Entschuldigungsbrief an den Altkanzler.

Thierse kann wahrlich froh sein, daß er in der SPD gelandet ist und nicht bei der Union. Diese hat es in ihrer offenkundigen Kampagnenunfähigkeit nicht vermocht, trotz dieser scheunentorgroßen Blößen den Druck wenigstens über das Wochenende hinweg aufrechtzuerhalten. Die SPD dagegen hat ihren Sorgengenossen trotz kläglicher Vorstellung nicht fallengelassen, alle Mahnrufe ignoriert und frühzeitig den Schluß der Debatte verkündet. Krisenmanagement à la CDU sieht anders aus: Da wird der Angeschossene als erstes an die Meute verfüttert, damit das Rudel kopflos türmen kann; da hilft dem ins Visier Geratenen keine Entschuldigung und keine noch so zerknirschte Reuebekundung.

Die komplett schamfreie Unfähigkeit zur Selbstkritik gehört freilich zum System Thierse. Nach 15 unauffälligen Jahren im Dienste des Kulturministeriums und der Akademie der Wissenschaften der DDR, in denen seine regimekritische Einstellung - so vorhanden - offenbar unterhalb aller Wahrnehmungsgrenzen blieb, katapultierte ihn die Wende erst ins Neue Forum  und in die wiedergegründete mitteldeutsche SPD, um angepaßt und unauffällig von einem hohen Partei- und Staatsamt zum nächsten nach oben zu fallen - bis hinauf zum Präsidenten des Deutschen Bundestages.

Und immer trug Wolfgang Thierse dabei höchste moralische Ansprüche vor sich her. Kein namhaftes Spektakel "gegen Rechts" vergeht, ohne daß der Schirmherr der Amadeu-Antonio-Stiftung seinen Senf dazugibt. Vom hohen Roß des Holocaust-Mahnmal-Kurators herab pflegte Thierse im Gleichklang mit den Propaganda-Phrasen polnischer Chauvinisten die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Präsidentin Erika Steinbach als "Aufrechner" abzukanzeln. Kaum dem Interview-Desaster entronnen, wirbt Thierse schon wieder für ein Bündnis seiner SPD mit den Kommunisten.

Wie die Genossen von der Volksfront weiß Thierse immer ganz genau, hinter welchem Busch er "Nazis" und böse Rechte jagen muß, und stellt sie mit hocherhobenem Zeigefinger an den Pranger. Nur wenn es plötzlich um ihn selbst geht, wird die hehre Moral windelweich, und die harten Urteile, mit denen er sonst so rasch bei der Hand ist, lösen sich in armseliges Sich-Herauswinden auf.

Einigen Pressekommentatoren ist dieser Widerspruch aufgefallen. Die Unions-Chargen hatten dagegen mit ihren empörten Variationen über die Verwerflichkeit von Thierses Kohl-Vergleich ihr Pulver schon verschossen. Die Einreihung in die "antifaschistische" Einheitsfront hat die Merkel-Union impotent gemacht: Wer selbst beim "Aufstand der Anständigen" in Reih und Glied mit dessen Hauptinitiator stand, kann diesen auch nicht mehr als scheinheiligen Moralapostel entlarven.


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