© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/07 16. November 2007

Familie und Beruf
Die Doppelgestalt der Moderne
von Thomas Bargatzky

Unter der Überschrift "Unredliche Selbstgerechtigkeit" veröffentlichte Andreas Zielcke in der Süddeutschen Zeitung vom 11. Oktober 2007 einen nachdenklich stimmenden Artikel zur medialen Abrechnung mit Eva Herman, der mit folgenden Sätzen beginnt: "Nichts ist leichter, als Eva Herman öffentlich vorzuführen. Daß Frauen ihre wahre Erfüllung im Heim und am Herd und insbesondere in der Mutterschaft finden, ist für alle Frauen, die sich privat und beruflich ebenso entfalten wollen wie die Männer, ein hoffnungslos gestriger, ja reaktionärer Gedanke. Nichts leichter also, als Eva Herman dem Spott und der Verachtung auszusetzen." Der Rauswurf aus der Sendung durch Joachim B. Kerner sei ein Debakel des Moderators und seiner weiteren Gäste; in ihm drücke sich eben jene unredliche Selbstgerechtigkeit heutiger Anklagen aus, die letztlich auf das "Unvermögen zum öffentlichen Streit" zurückgehe, wenn es um das "deutsche Tabu" geht.

Solche besonnenen Worte überraschen bei einer Zeitung wie der Süddeutschen, die man doch eher im Lager der zynischen und hämischen Ankläger vermutet - eine Art Spiegel für feinsinnige Leute sozusagen. Zielckes Unbehagen an der medialen Hinrichtung der Eva Herman ist aber wohlbegründet, denn hier treten Dinge zutage, die für unser gesellschaftliches Klima und sogar für unsere Demokratie noch viel gefährlicher sind, als es der Autor ahnt. Um es pointiert zu sagen: Alice Schwarzer und Eva Herman sind zwei Gestalten der Moderne; die eine wäre ohne die andere nicht möglich, ihre Überzeugungen gehören zusammen wie Vorder- und Rückseite einer Münze. Versuchte man, eine Seite davon auszulöschen, zerstörte man alles. Wer sich daher heute Sorgen um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft macht, muß Eva Herman verteidigen. Zur Begründung dieser Behauptung ist ein Rückgriff auf einige fundamentale Gegebenheiten unserer Geschichte und die Entstehungsbedingungen der modernen Welt erforderlich.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich in Europa ein neues einheitsstiftendes politisches Ordnungsmodell durch: der Gedanke der Nation als einer durch gemeinsame Sprache, gemeinsame - oftmals "erdachte" - Geschichte und gemeinsame kulturelle Identität zum Ethnos verbundenen Schicksalsgemeinschaft. Die Nationen eroberten in Europa gleichsam den Staat und bauten ihn von Grund auf zum Nationalstaat um, wobei freilich nicht jede Nation den Weg zur Eigenstaatlichkeit gehen konnte, wie das Beispiel der Katalanen oder Basken zeigt.

Die Herausbildung des Nationalstaates ist auf das engste mit anderen typischen Entwicklungen in der europäischen Geschichte seit dem Westfälischen Frieden verbunden: mit Aufklärung, Säkularisierung, parlamentarischer Demokratie und vor allem der Industrialisierung. Diese fünf Fundamentalprozesse verleihen Europa ein typisches Gepräge, eine Gestalt, die nicht ohne weiteres auf andere Weltgegenden übertragbar ist und die sich mit Erfolg fast nur dort in Übersee einpflanzen ließ, wo Europäer als Einwanderer geschichtsbildend auftraten. Vor allem die Industrialisierung war in Europa von größtem Einfluß auf die Durchsetzung des Nationalstaatsgedankens, denn sie erzwang eine Mobilität in zuvor noch nie gekanntem Ausmaß. Nach der Auflösung der alten Ortsbindungen durch Großfamilie oder Grundherrschaft stärkte die Industrialisierung daher den Wunsch nach einer überlokalen Identität, die einem auch dann verblieb, wenn man den Ort wechselte.

Ohne diese psychische Abfederung im Nationalgefühl wäre die Transformation der Gesellschaft im Industriezeitalter wohl kaum gelungen. Im Zusammenhang mit der Industrialisierung bildete sich im modernen europäischen Nationalstaat die Vorbedingung für die westliche parlamentarische Demokratie heraus: die Bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Trennung von "Kapitalbesitzern" und den "Besitzern von Arbeitskraft", die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft gegen Lohn angewiesen waren.

Diese Konstellation prägt durch ihre Polarisierung von "Rechts" und "Links" bis heute das politisch-parlamentarische Geschehen in den westlichen Nationalstaaten. Deshalb ist das Modell der parlamentarischen Parteiendemokratie mit seiner ideellen Überhöhung durch das Postulat der Menschenrechte erfolgreich und auf Dauer nur dorthin übertragbar, wo entsprechende Voraussetzungen bestehen.

Im Verlauf der Entwicklung der Bürgerlichen Gesellschaft wurde die Arbeit auf eine revolutionäre Weise umgestaltet, mit weitreichenden Folgen für das Zusammenleben in Familie, Gesellschaft und Staat. Nehmen wir die Arbeitslosigkeit als Beispiel, um diese Behauptung zu belegen. Die Arbeitslosigkeit ist eine der großen Geißeln unserer Zeit. In der modernen Lebenswelt ist Arbeit nämlich geradezu gleichbedeutend mit Erwerbsarbeit - und die ist in der Tat knapp geworden. Ein Rückblick auf die Geschichte der biotisch modernen Menschheit der vergangenen 40.000 Jahre läßt jedoch den Schluß zu, daß in vor- und frühgeschichtlicher Zeit Vollbeschäftigung herrschte. Arbeit ging buchstäblich niemals aus.

Das gilt auch für die sogenannten rezenten "Stammesgesellschaften", deren innere Ordnung durch das Zusammenwirken von Körperschaften wie Großfamilie, Sippe, Klan, Lokalgruppe hergestellt wird. Diese Körperschaften besitzen unveräußerliche Rechte auf gemeinsames Anbauland, auf Fischgewässer, Streifgebiete für die Jagd und das Sammeln, auf Siedlungsplätze, aber auch Namen, Titel sowie kultische Handlungen. Nur durch die Zugehörigkeit zu solch einer Gruppe hat der einzelne Zugang zu diesen "Produktionsmitteln" im weitesten Sinne, die er benötigt, um sich am Leben zu erhalten. Seine Beziehungen zu den übrigen Mitgliedern seines Verwandtschaftsverbands und seiner Ortschaft drücken sich in seiner Arbeitsleistung aus.

Der einzelne arbeitet niemals nur für sich oder seine engere "Kernfamilie", sondern stets auch für den größeren Verband, denn die Erhaltung und beständige Erneuerung des Gemeinwesens ist die Voraussetzung für die Sicherung der Daseinsbedingungen des einzelnen. Zur Arbeit zählt nicht nur die Erzeugung von Nahrungsmitteln und die Herstellung von Waffen und anderem Arbeitsgerät, sondern zum Beispiel auch das Kochen, Bedienen, die Kindererziehung, die Pflege der Alten und der Vollzug des Kultus. Der gesellschaftliche Zusammenhang beruht daher nicht auf der Zirkulation von Waren und Kapital, wie es in den Epochen der Warenproduktion von der antiken Sklavenarbeit bis hin zur entwickelten kapitalistischen Lohnarbeit der Fall ist.

Die moderne Erwerbsarbeit hat das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf eine völlig neue Grundlage gestellt. In vormodernen Gesellschaften herrschte nämlich einerseits geschlechtliche Arbeitsteilung: Mann und Frau wurden streng traditionsbestimmte Tätigkeitsbereiche zugewiesen. Andererseits war die Frau nirgendwo auf eine ausschließliche Hausfrauenarbeit "im Heim und am Herd" festgelegt. Frauen sammelten Nahrungs- und Nutzpflanzen, arbeiteten als Hirtinnen oder auf den Feldern, sie stellten Haushaltsgeräte und wichtige Handelsgüter her. So verhält es sich auch in der Gegenwart noch bei den heutigen "Stammesgesellschaften", auch wenn diese in unterschiedlichem Maße stets auch in die monetarisierte Ökonomie der umfassenderen Gesellschaft und damit in das moderne Weltsystem eingebunden sind.

Mit anderen Worten: Nicht nur die Eingliederung der Frau in die geschlechterrollenneutrale Erwerbsarbeit ist eine moderne Entwicklung, sondern auch die für die Bürgerliche Gesellschaft typische Arbeitsteilung zwischen dem Mann als Beschaffer des Familieneinkommens an einem außerhäuslichen Arbeitsplatz und der Frau als Hausfrau, die für die Versorgung des Haushalts und die Erziehung der Kinder zu Hause bleibt. Ohne die Herausbildung der modernen gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf der Grundlage der Lohnerwerbsarbeit gäbe es die materiellen Voraussetzungen des Rollenmodells der Vollzeit-Hausfrau in den mittleren und gehobenen bürgerlichen Schichten gar nicht. Hausfrauenarbeit ist daher moderne Arbeit oder, um es zugespitzt zu formulieren: Eva Herman ist genauso modern wie Alice Schwarzer. Beide sind nur denkbar vor dem Hintergrund der Herausbildung der Arbeitsbedingungen und der Lebensverhältnisse der modernen Welt.

In gereiften modernen Demokratien ist es das Ziel der Sozialpolitik, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß ein Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Erwerbswelt und den unterschiedlichen Interessen der Familien möglich wird. Eltern sollten sich unabhängig von materiellen Überlegungen und Notwendigkeiten entscheiden können, ob sie ihre Kinder in eine Kinderkrippe geben oder ob lieber ein Elternteil - in der Regel die Mutter - zu Hause bleibt, um sich für eine bestimmte Zeit oder ständig als Hausfrau der Familie zu widmen.

Norwegen ist solch ein modernes Land. Tief sozialdemokratisch geprägt, führte es dennoch vor Jahren das Elterngeld ein, um Eltern, die sich so entscheiden, zu ermöglichen, in den ersten Lebensjahren eines Kindes die häusliche Erziehung statt der Kinderkrippe zu wählen. Mehrere Jahre - bis 2005 - wurde Norwegen ferner von einer Minderheitsregierung unter Führung der Christlichen Volkspartei (Kristelig Folkeparti) regiert. Regierungschef war der Theologe Kjell Magne Bondevik, der zuvor seinem Land schon in mehreren hohen Ämtern gedient hatte, unter anderem als Außenminister.

Bondevik, ein Mann, dessen Ansichten bezüglich Ehe und Familie sich von denen Steffen Heitmanns gar nicht so sehr unterscheiden, hätte keine Chance in Deutschland. Er würde mit Sicherheit bei den Meinungsmachern unserer ach so liberalen Presse, angefangen bei der Süddeutschen Zeitung über die Frankfurter Rundschau bis hin zur taz, sowie den unvermeidlichen Johannes B. Kerners in den Fernsehstudios genauso gehetzt und politisch geradezu hingerichtet wie seinerzeit Heitmann, der 1994 der Wunschkandidat der CDU für das Amt des Bundespräsidenten war. Wahrscheinlich würde Bondevik auch ins Visier der Bataillone vom "Kampf gegen Rechts" geraten, denn - rückt ihn seine Wertschätzung der Familie nicht verdächtig nah an den Nationalsozialismus heran?

 Wer Dinge voneinander unterscheidet, durchtrennt die Einheit der Welt. Im ausgeschlossenen Anderen wird die Einheit jedoch weiter transportiert, und eine Setzung, die so mächtig wäre, daß sie "das ausgeschlossene Andere zerstörte, unwirklich weil undenkbar macht, zerstörte sich selbst" (Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005). Erst Realität und Gegenrealität ergeben die Gesamt­realität; ein Gegenpol faßt den anderen als Möglichkeit immer in sich und bildet mit ihm eine höhere Einheit.

Man kann diesen Befund das "Gesetz der Kontrastharmonie" nennen. Es gilt auch für die Organisation der Arbeit in der modernen Gesellschaft. Eine richtig verstandene konservative Gesellschafts- und Familienpolitik darf daher nicht das Ziel verfolgen, die Zustände der Vormoderne wieder herzustellen. Das wäre utopisch. Sie muß statt dessen dafür streiten, daß auf der Grundlage der gesellschaftlichen Erwerbsarbeit Mütter sich so lange als Hausfrau vollberuflich der Erziehung ihrer Kinder und dem "Management" des Haushalts widmen können, wie sie es wünschen und es für das Wohl der Kinder nötig ist. Erhebt jedoch der andere Teil der Gesamtrealität im Namen des "Fortschritts" gleichsam einen Alleinvertretungsanspruch auf den Weltgeist und die Moderne und versucht den "konservativen" Teil der Gesamtrealität zu zerstören, indem er ihn unter den Generalverdacht der Nähe zum Nationalsozialismus stellt, dann zerstört er sich damit selbst, denn er bereitet dem totalitären Überwachungsstaat oder dem anonymen Netzwerk den Weg. Unter beiden Regimes haben Individuen keinen Spielraum mehr für die Wahl ihrer Lebensform.

Das Beunruhigende an der schrillen medialen Jagd auf Eva Herman ist nicht nur die Wirklichkeitsverweigerung eines Teils der Bewohner unseres Landes, sondern insbesondere der kollektivistische Zug zum Einheitsdenken, der in ihr zutage tritt. Hier zeigt sich ein Denken, das keine Alternativen zu den eigenen Ansichten mehr zulassen will. Ein mentaler Kollektivismus dieser Art hat uns schon einmal ins Unglück geführt. Heute macht er sich vor allem und am lautesten bei jenen bemerkbar, die vorgeben, im Namen des Fortschritts und der Moderne die Freiheit zu schützen. Wer sich daher um die Demokratie in unserem Land Sorgen macht, sollte Eva Herman beistehen.

 

Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrt Ethnologie an der Universität Bayreuth. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt "Zurück zur Kultur!" (JF 33/07).

Foto: Mutter mit Kind: Eltern sollen unabhängig von materiellen Notwendigkeiten entscheiden können, ob sie ihre Kinder in eine Krippe geben oder ob ein Elternteil - in der Regel die Mutter - zu Hause bleibt


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