© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/07 09. November 2007

Pankraz,
Minister Schioppa und die Nesthocker

Hilfe, die Nesthocker werden immer mehr, und sie hocken immer länger im Nest! In Italien, wo sie "bamboccioni" heißen, hat jetzt der Wirtschaftsminister des Landes, Tommaso Padoa Schioppa, regelrecht Alarm geschlagen. Die Bamboccioni seien dafür verantwortlich, daß so wenige einheimische Kinder geboren würden, sagte Schioppa in einem Interview, sie seien mittlerweile eine schwere Last für die Volkswirtschaft, man müsse darüber nachdenken, wie man sie endlich aus ihren "Höhlen" herauslocken könne.

Mit den "Höhlen" sind die Elternhäuser gemeint, aus denen sich junge Erwachsene in früheren Zeiten spätestens mit neunzehn, zwanzig Jahren verabschiedeten, um einen eigenen Haushalt aufzubauen und eine unabhängige Existenz anzustreben. Heute ist das nicht mehr so, zumindest in den Ländern der EU nicht. Man bleibt über Studienabschluß, Diplom und Doktorarbeit hinaus bei den Eltern wohnen, denn die Mieten draußen sind hoch und die Jobs rar. So wird man unversehens zum Bamboccione, zum "stay-at-home", der noch mit Dreißig, ja Vierzig im heimischen Nest hockt und nicht daran denkt, flügge zu werden.

Männer wie Frauen sind nach Auskunft der Statistiker gleichermaßen betroffen. Da es nicht mehr unbedingt "in" ist, eine Familie zu gründen und Kinder zu kriegen, sieht man auch in sexueller und erotischer Hinsicht keine Notwendigkeit, von zu Hause wegzuziehen. Man knüpft Liebesbande gewissermaßen von Elternhaus zu Elternhaus, besucht sich gegenseitig, liebt sich durchaus, bleibt aber doch in wichtigen Dingen auf Distanz.

Je besser die Ausbildung, um so größer der Hang zur Nesthockerei. Unter den Bamboccioni sind überdurchschnittlich viele  soziologische und volkswirtschaftliche Doktoren, "überqualifizierte" Akademiker, und das gewiß nicht nur in Italien. Die Nesthockerei ist nicht zuletzt ein Nebenaspekt der vielberedeten "Generation Praktikant". Die  berufliche und finanzielle Unsicherheit der Praktikanten läßt sie wenigstens soziale Geborgenheit im Elternhaus suchen.

Praktikanten leben ja in der Regel von der Hand in den Mund, ihre Verträge (so sie überhaupt welche haben) sind zeitlich begrenzt und bieten weder aktuelle Halteseile noch Möglichkeiten zur Vorratsbildung und zur Zukunftsvorsorge. Alles, was hereinkommt, wird sofort wieder verbraucht. Auch erhält man, was die Arbeit selbst betrifft, kaum Gelegenheit, sich mit irgendeinem Unternehmen dauerhaft zu verbinden oder sich gar mit ihm zu identifizieren. Man ist in einer Weise "offen", daß man zum Ausgleich ganz automatisch nach Schutzräumen sucht, wie sie eben das Elternhaus bietet.

Pankraz findet übrigens - im Gegensatz zu Herrn Minister Schioppa - nicht unbedingt alles schlecht an der Nesthockerei der Generation Praktikant. Das Verständnis der Generationen füreinander, das unter dem Einfluß der 68er so sehr gelitten hat, wird durch die neue Lage allmählich wieder geweckt, gegenseitiger Respekt zieht ein, alte Tugenden werden gestärkt: bei der Elterngeneration beispielsweise die Großzügigkeit, die sie bei der finanziellen Unterstützung ihres erwachsenen Nachwuchses aufbringt, bei dem Nachwuchs Dankbarkeit und Rücksichtnahme auf das Alter.

Der Mensch ist von Natur aus ein geborener Nesthocker, und zwar so sehr, daß seine Nesthockerei sogar gleichsam in den Mutterleib hineinreicht. Wir sind, in der Sprache der Hebammen gesprochen, allesamt "Frühchen", kommen zu früh auf die Welt und können uns erst im Zustand des Nesthockens nach der Geburt gewisse Dinge aneignen, die anderen Arten schon vorher im Uterus von alleine zugewachsen sind.

Der große Schweizer Naturforscher Adolf Portmann (1897-1982) nannte die spezifisch menschliche Nesthockerei deshalb "extra-uterines Frühjahr" und führte auf sie die ungeheure Exorbitanz und Ausgezeichnetheit des Menschen vor jeder übrigen Kreatur zurück. Wir können nur Menschen sein, so Portmann, weil wir extreme Nesthocker sind. Was den anderen Gestalten des Lebens einfach in die Wiege gelegt wird, das eignen wir Menschen uns im familiären Wechselspiel zwischen den Generationen bewußt an. Das ist zwar schwierig und strapaziös, aber es verschafft Feldvorteil. Genau darin besteht Kultur, im Gegensatz zu bloßer Natur.

Biologen in der Portmann-Nachfolge sprechen vom Prinzip der "Retardation". Das Leben zeigt nicht immer gleich vor, was in ihm steckt, es retardiert manchmal, es hortet seine evolutionären Möglichkeiten, um eines Tages - je nach Lage der Dinge - das jeweils beste, effizienteste Modell zum Einsatz zu bringen. Eine solche Werkstatt zur Herstellung differierender Modelle ist also die menschliche Nesthockerei, eine großartige Sache an sich, ein tolles Durchspielen von optimierenden Möglichkeiten, dem auch EU-Wirtschaftsminister genauere Aufmerksamkeit widmen sollten.

Sicher, das Spiel mit Möglichkeiten ist wie alle Spiele limitiert, einmal muß Schluß sein mit dem Lippenspitzen, einmal muß gepfiffen werden. Bloße Möglichkeitsmenschen sind ab einem gewissen Zeitpunkt ziemlich unerträglich, auch wenn sie noch so charmant mit ihren schönen Möglichkeiten herumoperieren. Die Gefahr, daß aus Bamboccionis schlichte "Mammoni",  Muttersöhnchen und Angeber werden, ist immer gegeben. Allerspätestens mit Vierzig (sagt Nietzsche) sollte man seine eigene Operationsbasis haben inklusive Finanzausstattung und Schutzraum, sein Nest.

Ein Wirtschaftssystem freilich, das nicht in der Lage ist, gut ausgebildeten und promovierten Praktikanten reale und wenigstens mittelfristige Perspektiven zur Erlangung eines solchen Nestes zu eröffnen, hat schwerlich Grund, in irgendeine Richtung "Haltet den Dieb!" zu rufen. Es genügt auch nicht (wie Minister Schioppa das tut), "Steurerleichterungen für Auswärtswohnende" anzukündigen.  Nicht das Auswärtswohnen ist das Problem, sondern die Unfähigkeit von EU-Regierungen, das Auswärtige wirklich bewohnbar und wohnlich zu machen.


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