© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/07 02. November 2007

Im Visier der braunen und roten Diktatur
Zeitzeuge: Hans Peter Range war Verfolgungsopfer sowohl der Nationalsozialisten als auch der Kommunisten
Hans Peter Range

Noch während der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts war die einstige Großherzogliche Residenzstadt Neustrelitz eine wohlhabende Oase des Bürgertums: Die 25.000 Einwohner genossen alle die gepflegte Atmosphäre einer modernen Stadt, die viele kulturelle Sehenswürdigkeiten, ein prunkvolles Schloß, ein renommiertes Landestheater, das (damals) elitäre Gymnasium Carolinum, ein konservatives Lyceum, Freilichttheater, Turnierplatz für Reit- und Fahrwettkämpfe, gepflegte Parkanlagen und klassizistische Gebäude inmitten eines der ausgedehntesten Wald- und Seengebiete Deutschlands beherbergte. Nicht nur die wohlhabenden Geschäftsleute, Hofbeamten, adligen Pensionäre oder Gutsherren, sondern auch die soliden Handwerker, Bediensteten, Fischer und Arbeiter fühlten sich zufrieden und waren stolz auf dieses Land, in dem "Ruhe die erste Bürgerpflicht" war.

Als die "Braunen" kamen, wurde der Freistaat Mecklenburg-Strelitz 1934 aufgelöst und das Ministerium nach Schwerin verlegt. Damit hatten sich die Nationalsozialisten keine Freunde gemacht, denn die als "dickschädelig" bekannte Bevölkerung damaliger Mecklenburger hielt an alten Tugenden und Traditionen fest. Ihr Parteiprogramm von 1930 wurde in Mecklenburg-Strelitz mehrheitlich abgelehnt: Besonders die Punkte 13 ("Wir fordern die Verstaatlichung aller bisher bereits vergesellschafteten Betriebe ...") und 14 ("Wir fordern Gewinnbeteiligung an Großbetrieben. Die Aufgabe der Volkswirtschaft ist die Bedarfsdeckung und nicht eine möglichst hohe Rentabilität für das Leihkapital ...") lösten wenig Begeisterung aus.

Nun trumpfte die braune Diktatur auf, und die rote Diktatur konnte sich dank der Sowjets zwanzig Jahre später als Abklatsch etablieren. Es war vorhersehbar, daß sich die seit Jahrhunderten dort ansässigen Bürger sowohl gegen die Nationalsozialisten wie auch gegen die Kommunisten auflehnten, zumal die braune Gestapo aus denselben Schergen wie die rote GPU/NKWD der Russen und DDR bestand und jede dieser Mörderbanden dieselben Methoden anwandte.

Da ich es vorzog, die Klavierstunde zu besuchen statt zum allwöchentlichen HJ-Dienst zu gehen, mußte mich ein HJ-Pimpf zum Dienst bringen; oft war dies der 1927 geborene Arbeitersohn Harry Tisch, der später SED-Politbüromitglied und Vorsitzender der DDR-Gewerkschaft FDGB wurde. Meine Freunde und ich lehnten nicht nur die HJ, sondern zunehmend auch die Werbemethoden der Waffen-SS an den Schulen coram publico und rigoros ab.

Wir galten 1942 politisch als renitent und kritisierten die Nationalsozialisten, so insbesondere den Gauleiter Friedrich Hildebrandt, der sich in allen Schulen und Versammlungsstätten mit hohen Kriegsorden des Ersten Weltkrieges zeigte, obwohl mir genau bekannt war, daß ihm das Eiserne Kreuz erster Klasse nie verliehen worden war; er gab sich als Vizefeldwebel aus, obwohl er nicht einmal Gefreiter geworden war. Ich nannte ihn deshalb vor versammelter Obersekunda einen "Hochstapler". Als Hitler 1942 im Radio erklärte, daß Leningrad von uns eingekesselt sei, las unser Freund Buzzi Lang, Sohn eines Generalleutnants und Divisionskommandeurs vor Leningrad, aus dem Brief seines Vaters das Gegenteil vor, was mich veranlaßte, laut zu verkünden: "Unser Führer Adolf Hitler hat uns schon wieder belogen!"

Einige Tage später erschienen zwei Zivilbeamte der Gestapo in unserer Mathematikstunde; wir mußten das Gebäude verlassen und ihnen zur Gestapo-Dienststelle folgen, wo man uns eröffnete: "Range, Lang und Reinhard sind wegen defaitistischer Äußerungen und Beleidigungen unseres Führers und auch unseres Gauleiters hiermit verhaftet!" Es begannen wochenlange Verhöre in Neustrelitz, Waren und Schwerin, wo wir sogar dem Gauleiter persönlich vorgeführt wurden, der uns als "Verräter", "Bürgerpack" und "Staatsfeinde" beschimpfte. Ich wurde als "Rädelsführer" bezeichnet und erhielt die "Verweisung von allen deutschen Lehranstalten", während meine beiden Kameraden von unserem Gymnasium "entlassen" wurden und eine andere Schule besuchen sollten.

Nach etwa zwei Monaten durfte ich auf das Landgut von Freunden fahren und lebte dort wochenlang recht abgeschieden. Es erschien als Gast einer kleinen Jagdveranstaltung Erich Gritzbach aus Berlin, der mich fragte, ob ich auf Soldatenurlaub sei. Ich erzählte ihm den Grund meines Aufenthalts. Da Gritzbach in Berlin Staatsrat und der Biograph von Hermann Göring war, veranlaßte er alsbald die Revision meines Parteiurteils, dessen Rigorosität der Wortlaut "Range ist ein staatsfeindliches Subjekt, das keiner Schonung bedarf und ausgemerzt werden muß!" wiedergab.

Es gelang, daß mir der Besuch des Gymnasiums in Neubrandenburg ab Dezember 1942 gestattet wurde, wo meine Klasse nach kurzer Luftwaffenhelferzeit in Lübeck den Reifevermerk im Sommer 1944 erwarb, bevor wir zur Wehrmacht eingezogen wurden und bereits im Juli 1944 in Litauen zum Fronteinsatz kamen. Wir hatten dort das furchtbare Erlebnis, in Schaulen mehrere unserer Kameraden nach einem Gefecht mit abgeschnittenen Köpfen aufzufinden; uns bewegte die Frage: "Was sagen wir den Eltern?"

Im Februar 1945 wurde ich bei den wochenlangen Durchbruchskämpfen der Festung Thorn an der Weichsel durch Knieschuß verwundet. Ich blieb zwischen den eigenen und feindlichen Linien liegen und wurde am folgenden Morgen von den Sowjets gefangengenommen. Dabei wurde ich Zeuge einer nur drei Meter neben mir stattfindenden Exekution eines deutschen Hauptmanns, eines erblindeten und eines unverwundeten deutschen Soldaten, die von einem sowjetischen Oberleutnant (165. Sch-Div., Oberst Kaladse) durchgeführt wurde, während ein anderer Sowjetsoldat mich abführte. Ein solches Ereignis blieb ein Leben lang als unauslöschbar in meinem Gedächtnis.

Nachdem ich die russische Gefangenschaft in Polen überlebte und im Dezember 1945 nach Mecklenburg entlassen worden war, berichteten meine dort lebenden Eltern über die schrecklichen Ereignisse beim Einmarsch der Russen Ende April 1945. Über 740 Einwohner von Neustrelitz hatten in jenen Tagen, die die Roten als "Befreiung" bezeichneten, den Tod gefunden, Tausende waren vergewaltigt worden, der größte Teil etablierter Geschäftsleute, nahezu alle Ministerialbeamten und Gymnasiallehrer, Hofbeamte und fast alle der achtzig Adelsfamilien waren getötet, verschollen oder geflüchtet. Auch in Neubrandenburg, wo die gesamte Innenstadt abgebrannt war, sollen Tausende von Einwohnern umgekommen sein.

Die braune Diktatur war schrecklich zugrunde gegangen, aber die rote hatte mit Hilfe der Russen bereits neue Anker geworfen. Repräsentanten "des Proletariats" verkündeten verheißungsvoll, daß sich KPD und SPD zu einer gewaltigen Einheitspartei, der "SED", zusammenschließen würden, um so für alle Menschen segensreich wirken zu können. Eine bürgerlich schimmernde andere Partei, die LDP (Liberal-Demokratische-Partei), machte mich darauf aufmerksam, daß ich hier als "Opfer des Faschismus" (OdF) gelte und Mitglied werden solle. Doch ich lehnte dankend ab, weil ich einen Studienplatz an der Universität Greifswald bevorzugte. Ich erfuhr dabei, daß die Sowjets 1946 eine juristische Fakultät verboten hatten, so daß mir die Studienerlaubnis für die philosophische Fakultät zuerkannt wurde. Jedoch wurde meine Zulassung vom 21. August 1946 bereits am 22. August 1946 zunichte gemacht, weil zwei sowjetische NKWD-Offiziere in Begleitung des kommunistischen Kriminalsekretärs Richard Finger (Jahrgang 1916 und ehemaliger SS-Scharführer in Naugard) mich verhafteten.

Mir wurde vorgeworfen, Plakate mit der Aufschrift "SED/Sicheres Ende Deutschlands" gemalt und in Neustrelitz nachts geklebt zu haben. Bei einer Durchsuchung unseres Hauses wurde nichts gefunden. Ich befand mich nun aber in einer durch Kot, Blut und Eiter verunreinigten Einzelzelle des sowjetischen NKWD-Gefängnisses in Neustrelitz, das vordem zum Amtsgericht gehört hatte. Jeweils in der Nacht fanden durch ein oder zwei NKWD-Offiziere mit Dolmetscherin meine Vernehmungen statt, bis mir mitgeteilt wurde, daß jetzt alle meine Aussagen protokolliert würden; ich möge daher selbst entscheiden, ob ich künftig "sitzen" oder "stehen" wolle: Ich antwortete: "Sitzen!" Der Oberleutnant führte mich in die Nebenzelle, in der auf dem Fußboden neun mit Isolierband zusammengebundene Bierflaschen standen, deren Flaschenhälse scharfkantig abgeschlagen waren. Der Offizier befahl mir: "Wir haben gemacht Vertrag, Du willst sitzen!" Ich lehnte ab, worauf er aus seinem Schreibtisch einen russischen Revolver holte, mir den Lauf in den Mund schob, mich anschrie: "Du Vertrag gebrochen!" und zustieß: Ich spürte Schmerzen, Blut und Zahnsplitter. Zwei Russen führten mich in meine Zelle und befahlen mir, den Fußboden zu schrubben.

Am folgenden Tag verlangte ich vergeblich nach einem Arzt, stattdessen erschien der Oberleutnant mit seiner Dolmetscherin, die mich lächelnd fragten: "Willst Du stehen oder sitzen?" Ich entschied mich für das Stehen! Der Offizier lächelte und sagte: "Stell Dir in Ecke, aber auf Kopf!" Einige Tage später wurde ich ohne Urteil mit einem russischen LKW in das 27 Kilometer benachbarte sowjetische "Speziallager Nr. IX. des NKWD" Fünfeichen gefahren, wo sich einst 12.000 Gefangene, am Ende 1948 nur noch 5.000 Häftlinge befanden. Mehr als 60 Prozent aller Verschleppten gingen dort zugrunde. Ich wurde am 22. August 1948 ohne Urteil entlassen und flüchtete nach West-Berlin, von wo mich die Briten nach Lübeck ausflogen.

Ich habe seit sechzig Jahren alle Parteipolitik gemieden und verabscheue sogar schon die Anzeichen einer erneuten Diktatur, die ich zum Beispiel in der ideologisierten Rhetorik der 68er ausmachte: Die Sorge blieb!

 

Hans Peter Range wurde 1926 in Neustrelitz geboren, arbeitete nach 1948 als Pharma-Kaufmann, zuletzt bis zu seiner Pensionierung im leitenden Management eines Arzneimittelkonzerns. Range publizierte eine Reihe auflagenstarker primär musikgeschichtlicher Sachbücher und eine Biographienreihe berühmter Konzertpianisten. Er lebt heute in der Nähe von Freiburg im Breisgau.

Fotos: Alexander Deineka, "Der Dichter Wladimir Majakowski in seinem Rosta-Atelier", 1941: Das Bürgertum muß eliminiert werden, Hans Peter Range: "Bürgerpack"


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