© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/07 02. November 2007

Die Angst vor dem Volkswillen
Politisches System: Experten plädieren für mehr Elemente direkter Demokratie / Tagung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer
Klaus Peter Krause

In der Demokratie soll sich der politische Willen von unten nach oben bilden. Wie aber, wenn die politische Klasse die Regeln so pervertiert, daß das Volk nichts zu sagen hat und die Richtung der Willensbildung sich umkehrt?" Für den Rechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim, der dies sagte, hat sich die Richtung längst umgekehrt. Oder: "Was ist, wenn die politische Klasse bei der Gestaltung der Regeln vor allem an sich selbst denkt?" Für von Arnim ist das längst der Fall. Gebildet werde die politische Klasse von Berufspolitikern parteiübergreifend, sie verfolge gemeinsame Interessen, lebe finanziell im Schlaraffenland, schotte sich mit dem Wahlsystem gegenüber den Bürgern ab, die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern seien so vermischt, daß kein Bürger mehr durchblicke, es herrsche ein Zustand der organisierten Unverantwortlichkeit.

Mit solchen Fragen und Feststellungen leitete von Arnim die 10. Demokratie-Tagung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer ein. Sie stand unter dem Thema "Defizite in Staat und Verwaltung". Einen Weg, um die Defizite zu beseitigen, sieht von Arnim darin, die repräsentative Demokratie durch Elemente direkter Demokratie (Volksbegehren, Volksentscheide, Direktwahl von Amtsträgern) zu ergänzen, um mit diesen Mitteln "legale Revolutionen" zu erzwingen und den Politikern die Alleinherrschaft über die Regeln des Machterwerbs zu entziehen.

Wie sehr direkte Demokratie in Kommunal- und Länderverfassungen schon Einzug gehalten haben, führte der Berliner Rechtswissenschaftler Otmar Jung vor. Das Totschlagargument gegen direkte Demokratie - "Sie wollen eine andere Republik" - wirke nicht mehr. Direkte Demokratie sei ein normales Thema geworden. Seit 1990 hätten Volksbegehren  und Volksentscheide einen regelrechten Aufschwung genommen.

Jungs Vortrag über direkte Demokratie in Deutschland ergänzte Gerald Häfners über direkte Demokratie in der Europäischen Union. Häfner, 1979 Mitbegründer der Partei Die Grünen, mehrmals Bundestagsabgeordneter und heute Sprecher des Bundesvorstandes des Vereins "Mehr Demokratie", beklagte die fehlenden Volksabstimmungen über den EU-Reformvertrag als eine große vertane Chance für mehr Demokratie. Die Staats- und Regierungschefs seien professionell unfähig, in der EU mehr Demokratie herzustellen. Er sieht "die Gefahr, daß wir eine Politik ohne Volk und ohne Demokratie bekommen". Die Internationalisierung und Europäisierung der Politik bedeute einen Ausstieg aus der Demokratie und dem Volkswillen.

Nur mit direkter Demokratie, mit Volksbegehren und Volksentscheid, sieht der Jurist und einstige Landtagsdirektor in Thüringen Joachim Linck die Chance, das zu verwirklichen, wofür er in Speyer plädiert hat: Abgeordnete in den Länderparlamenten sollten keine Berufspolitiker mehr sein und diese Parlamente wieder Feierabendparlamente werden. In Berufsabgeordnete hätten die Bürger zu wenig Vertrauen. Deren Handeln sei zu stark eigennützig geprägt und nicht nur am Gemeinwohl orientiert. An ihrem Mandat klebten sie aus Eigennutz. Die vielen Gründe dafür zählte er auf. Ebenso die, warum es für die repräsentative parlamentarische Demokratie fatal ist, Berufsabgeordnete zu haben. Daher solle es nur Teilzeit- oder ehrenamtliche Abgeordnete geben. Um das zu erreichen, sieht Linck eine radikale, aber einfache Lösung vor: Grunddiäten und sonstige finanzielle Leistungen massiv kürzen und daneben die Mandatsdauer zeitlich begrenzen. Dies müsse allerdings mit einer Parlamentsreform verbunden werden. Die Länderparlamente müßten sich allein auf landesspezifische Themen konzentrieren und die reine Kommunal- und Bundespolitik von ihren Tagesordnungen verbannen. Dann könnten sie ihre Arbeit ehrenamtlich oder auch als Teilzeit-Parlamentarier erledigen.

Vertrauen ist für den einstigen Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof  "Grundlage einer freiheitlichen Demokratie". Das Freiheitsvertrauen der Bürger schwinde, wenn der Staat sie durch steuerliche Anreize zu einem bestimmten Verhalten dränge und sie oft sogar "in die ökonomische Torheit" lenke. Er sprach zum Thema "Wer enthauptet die Hydra?" Mit der Hydra meint er (neben den sonstigen staatlichen Wucherungen) das deutsche Steuerrecht. Er wiederholte seinen Vereinfachungsvorschlag zur Einkommensbesteuerung: für jeden ein Steuersatz von 25 Prozent, für jeden ein jährlicher Freibetrag von 10.000 Euro und alle Privilegien streichen. Dann zahle eine Sekretärin mit 20.000 Euro Jahreseinkommen keine Steuer, aber ihr Chef mit einer Million Einkommen knapp eine Viertelmillion. Kirchhof sieht die Abgeltungssteuer von 25 Prozent auf Einkünfte aus Kapitalvermögen als einen ersten Durchbruch. Allerdings habe diese Steuer einen Fehler: Sie gelte nur für diese eine Einkunftsart, nicht auch für die übrigen sechs. Damit stelle sich jetzt nach Artikel 3 Grundgesetz die Frage "Warum nicht auch für Arbeitseinkommen einheitlich 25 Prozent?" Kirchhof sieht keinen rechtfertigenden Grund, warum Kapitaleinkommen mit 25 und Arbeitseinkommen mit bis zu 45 Prozent besteuert würden.

"Wie verdrossen sind die Bürger?" Dazu sprach der Meinungsforscher der Forschungsgruppe Wahlen, Matthias Jung. Er mochte in den schlechten Umfrageergebnissen zu Demokratie, Politik und politischen Akteuren nicht zugleich auch eine allgemeine Politikverdrossenheit sehen. Wohl seien 55 Prozent der Deutschen mit der Demokratie derzeit eher unzufrieden. Auch sei der Ansehensverlust von Politikern und Parteien unübersehbar. Aber gleichzeitig bekunde gut die Hälfte der Bürger für Politik ein starkes Interesse, deutlich mehr als in den neunziger Jahren.


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