© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/07 02. November 2007

Die rote Versuchung
Oktoberrevolution in Rußland: Einen "antitotalitären Konsens" hat es in Wahrheit nie gegeben
Thorsten Hinz

Der Sturz der Provisorischen Regierung Rußlands in der Nacht vom 7. zum 8. November 1917, der später vom Filmregisseur Sergej Eisenstein als "Sturm auf das Winterpalais" weltberühmt in Szene gesetzt wurde, war eine begrenzte Kommandoaktion gegen die Vertreter einer Macht, die längst kapituliert hatte. Doch das Ereignis und seine Folgen erschütterten und prägten die Welt auf Jahrzehnte, und so enthält die Eisenstein-Szene viel mehr historische Wahrheit als jede nüchterne Reportage.

An die Oktoberrevolution knüpften sich im Ausland neben Ängsten auch vielfältige Erwartungen. Expressionistische Dichter sahen Lenin "an den Schlaf der Welt" rühren und das zweite Kapitel der Weltgeschichte aufschlagen; sie hofften, der "russische Stier" würde die altersmüde Europa befruchten und verjüngen. Was dann aber folgte, übertraf die zaristische Unterdrückung bei weitem und endete in einem politischen, ökonomischen, sozialen und moralischen Desaster.

Unter dem Roten Stern sind mehr Menschen umgekommen als unter dem Hakenkreuz. Als das "Schwarzbuch des Kommunismus" diese altbekannte Tatsache 1998 in Erinnerung rief, sorgte das für Empörung. Denn trotz ihrer verheerenden Folgen wird die Oktoberrevolution viel entspannter betrachtet als die Machtergreifung Hitlers. Die kommunistische Bewegung wird als eine ursprünglich ehrenwerte, leider fehlgetretene Gesellschaft betrachtet; ihre blutigen Irrwege will man gar nicht so genau kennen. Selbst nach 1989 hat sich daran nichts Prinzipielles geändert. Drei Gründe dafür seien genannt:

Erstens ist der Anti-Hitlerismus, an dem die Sowjetunion vier Jahre lang die Hauptlast trug, das geistige, moralische, geschichtliche Fundament der internationalen Nachkriegsordnung. Darin sind alle sich einig, daß es so bleiben soll: amerikanische Neocons, westliche Liberale und Sozialdemokraten, osteuropäische Altkommunisten und Bürgerrechtler und Rußlands Präsident. Wer aus diesem antifaschistischen Konsens ausschert und sein Weltbild primär antikommunistisch, antisowjetisch bzw. -stalinistisch definiert - wie einige Politiker Ostmitteleuropas das versuchten -, gerät unter internationale Quarantäne.

Dieser - in der Konsequenz prokommunistische - Dezisionismus ist erfolgreich, weil er, zweitens, einer politisch-eschatologischen Tiefenströmung entspricht. Die Linksbewegung wird als die weltgeschichtlich natürliche empfunden - um so mehr im postreligiösen Zeitalter, wo die Erlösungshoffnung sich ins Säkulare wendet. Der rote Schrecken wird zwar nicht automatisch gebillig, aber er kann mit Empathie und Verständnis rechnen. Der in der Studentenbewegung überaus populäre Ernst Bloch schlug einen kühnen Bogen anthropologischer Gerechtigkeitssehnsucht von den hellenistischen Staatsmärchen über den "halben Urkommunismus" der alttestamentlichen Propheten, den "frühchristlichen Liebeskommunismus" des Neuen Testaments bis zu den konkreten Sozialutopien des 18. und 19. Jahrhunderts und dem Marxismus-Leninismus. Wer genügend rechtgläubig war, dem wurde sogar die eigene Ermordung durch Stalins Schergen zum transzendentalen Ereignis, zur "Rückkehr in die Sowjetunion. 'Wofür stirbst du?' - für die Sowjetunion, und mit dem letzten Bekenntnis zu ihr; sie ist, vom Ende des individuellen Lebens aus gesehen, das Jenseits kommunistischer Atheisten."

Der "antitotalitäre Konsens" der frühen Bundesrepublik, der von Konservativen wehmutsvoll erinnert wird, war nur eine Verlegenheit des Kalten Krieges. Er sollte die Kräfte des Westens gegen die aktuelle sowjetische Gefahr mobilisieren, ohne die Legitimität der Anti-Hitler-Koalition dadurch nachträglich in Frage zu stellen. Schon in den fünfziger Jahren war für große Teile der Presse die virtuelle Gefahr einer Renazifizierung der BRD viel wichtiger als die Zustände in der DDR, Beziehungen zur vergleichsweise gemäßigten Diktatur in Franco-Spanien galten als anrüchiger als Kontakte mit Moskau. Zur Gegenwart sagte der Historiker Arnulf Baring jüngst auf einer Gedenkveranstaltung für RAF-Opfer: "Die wirkliche Gefahr kommt von links, nicht von rechts", und er wunderte sich, daß es weniger Aufregung um eine linksradikale Gruppe gebe, die in Berlin Autos anzünde, als um die rechtsextreme NPD, wenn diese Flugblätter verteile. Er hätte auch die merkwürdigen Auswüchse nennen können, die die Schnüffelei nach Nazi-Ikonographie auf Jugendbekleidung treibt, während gleichzeitig die Bildnisse von Lenin, Stalin und Mao zur internationalen Popkultur gehören. Ein Damm gegen die linke Grundströmung ist der "antitotalitäre Konsens" nie gewesen!

Mit Macht zum Durchbruch gekommen ist diese Tendenz, drittens, mit dem egalitären Zeitalter, das im Gefolge der Industrialisierung anbrach. Es entstanden Millionenmassen entwurzelter Proletarier. Ihre Emanzipation durch Demokratie, Gleichheit vor dem Gesetz, Wohlfahrtsstaat usw. bedeutete keineswegs, daß sie vertiefte "theoretische Einsichten in das Sein oder Soll-Sein der Dinge - in Politik etwa" gewonnen hätten, sondern die Herrschaft der "geistigen Plebs heute im öffentlichen Leben" (José Ortega y Gasset). Die Erfahrung formaler Gleichheit als Wähler, Konsument oder Medienbenutzer verführt sie zur Ablehnung jedweder Hierarchie und zu der neuartigen Idee, Gerechtigkeit als soziale Gleichheit zu definieren und durchzusetzen. Das ist der Punkt, wo die sozialistisch-kommunistische an die liberale Ideenwelt anschließt und über sie hinausgeht. Aus dieser Anschlußfähigkeit ergibt sich die Chance eines antifaschistischen Konsenses, der die kommunistische Vergangenheit und die Oktoberrevolution mit umfaßt. Zwar zerbrach auch der Nationalsozialismus tradierte Hierarchien, aber zu dem Zweck, den Grundgedanken der Über- und Unterordnung desto machtvoller zu behaupten. Damit stand er gegen den als natürlich empfundenen Zug der Weltgeschichte, und die Gleichbehandlung von Rot und Braun ist auch künftig nicht zu erwarten!

Neunzig Jahre nach der Oktoberrevolution sind ihre konkreten Ideen widerlegt und aufgebraucht, nicht aber den Drang nach säkularer Erlösung, nach Gerechtigkeit bzw. Gleichheit. Jetzt laden dessen  aktuelle Protagonisten die Verdammten der Dritten Welt ein, die Verhältnisse im erschlafften Westen zum Tanzen zu bringen. Sie stehen damit in der Rolle der expressionistischen Schwärmer von 1917. Die Entwicklungen, die sie anstoßen, werden sich noch weniger zu ihren Bedingungen und nach ihren Vorstellungen abspielen als die vor neunzig Jahren.


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