© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

Leidenschaft heißer als Gulaschsaft
Von der Melancholie eines Unterhaltungskomponisten: Emmerich Kálmán zum 125. Geburtstag
Wiebke Dethlefs

Er ist neben Lehár sicherlich der bedeutendste Vertreter der sogenannten "silbernen Epoche" der Operette (nach der "goldenen" der Strauß, Millöcker, Suppé und Zeller). In seinen Hauptwerken "Die Czardásfürstin", "Gräfin Mariza" oder "Die Zirkusprinzessin" feiert das Ungarn der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg fröhliche Urständ wie sonst bei keinem anderen seiner Komponistenkollegen. Aber es ist ein irgendwie irreales Ungarn. In seinen Bühnenwerken manifestiert sich eine idealisierte, eine Traumwelt, eine phantastische Champagnerseligkeit von Nachtlokalen, die so niemals existiert haben, und ein letztesmal der Glanz des k.u. k. Militärs. Bei keinem der großen Operettenmeister ist das ungarische Kolorit so stark ausgeprägt wie bei ihm. Und alle seine Werke sind auf größte Bühnenwirkung hin angelegt.

Doch selten standen bei einem Meister der sogenannten leichten Muse Leben und Werk so kontrastierend zueinander. Denn der Komponist war eine eher elegische Natur, die zu Depressionen neigte. Robert Stolz bezeichnete ihn als einen der düstersten Menschen, die ihm jemals begegnet sind. Der Schock über den Bankrott seines Vaters 1896, eines jüdischen Getreidehändlers, was mit gesellschaftlichem Niedergang verbunden war, scheint Auslöser von Urängsten gewesen zu sein, die ihn lebenslang begleitet haben.

Geboren wurde Emmerich Kálmán am 24. Oktober 1882 in Siofok am Plattensee unter dem ursprünglichen Namen Koppstein Imre (in Ungarn stellt man den Familiennamen voran). Als Zehnjähriger bezog er das Budapester evangelische Gymnasium, wo es für alle, insbesondere die jüdischen Schüler zum guten Ton gehörte, ihre Namen zu magyarisieren. So wurde aus Koppstein Kálmán.

Nach dem Ende des Musikstudiums war er ab 1904 als Musikkritiker beim Pesti Naplo tätig und verfaßte unter dem Titel "Saturnalien" sein erstes Orchesterwerk. Die positive Aufnahme dieses Werkes durch die damalige Kritik ließ das Selbstbewußtsein des jungen Tonsetzers erstarken. Der materielle Erfolg der ersten Operette "Tátárjárás", deutsch "Herbstmanöver" (UA Budapest 1908) ermöglichte die Übersiedlung nach Wien. Mit  dem 1912 erstaufgeführten "Zigeunerprimas" stieg der Komponist dann in den Wiener Operettenolymp auf. Mit der "Czardásfürstin" (1916) und der "Gräfin Mariza" (1924) stellte Emmerich Kálmán sich nun musikgeschichtlich gleichberechtigt neben Franz Léhar, wenngleich dieser - aus heutiger Sicht - den dauerhafteren Ruhm erlangt zu haben scheint. Doch trugen zum Ruhm des Komponisten ebenso die hohen Qualitäten der Textbücher bei, überwiegend verfaßt von den Librettisten Leo Stein und Belá Jenbach.

1928 lernt Kálmán in einem Café die 17jährige Vera Natascha Mendelsons kennen, die mit ihrer Mutter nach der russischen Revolution nach Wien gekommen war. Obwohl sie 25 Jahre jünger als Kálmán war, heirateten beide bald. Der Ehe entstammten bis 1937 drei Kinder. Vera Kálmán wurde mit ihren Affären bald berühmter als ihr Mann, dessen depressive Phasen nicht nur wegen des Exils immer tiefer wurden.

Eine Sonderstellung nimmt in Kálmáns Schaffen "Die Herzogin von Chicago" (UA 1929 in New York) ein. Der Komponist versucht hier, amerikanische Musik mit ungarisch-wienerischer zu assimilieren. Dabei entstehen unter anderem hübsche Foxtrott-Nummern, deren Synkopen und Jazzanklänge zeigen, daß Kálmán mehr als die anderen europäischen Komponisten auch dieses Genre beherrschte. Czardás und Charleston gehen hier eine bezaubernde Symbiose ein.

Leider muß sich dieses Werk gefallen lassen, bei Decca in der Reihe "Entartete Musik" auf CD herausgebracht zu sein, was den Eindruck erweckt, daß es sich dabei um eine während des Dritten Reiches verbotene Komposition handelt. Aber die deutsche Erstaufführung erfolgte im Mai 1933 in Frankfurt. Nur war das Stück in der Neuen Welt und in Europa so wenig erfolgreich, daß es alsbald von den Spielplänen verschwand. Theodor W. Adorno, selber im NS-Sprachgebrauch "Halbjude" und damals Kritiker, meinte: "Ein läppischer Krieg zwischen Zigeunermusik und Jazz, gewürzt durch einen Serenissimus-Humor, der vor dem Ernst dessen, was heute in Deutschland geschieht, nicht anders als zynisch genannt werden kann ... Es wäre wichtiger, Produkte dieser Art auszumerzen, als von den Programmen Mahler-Symphonien abzusetzen."

Obwohl Kálmán ungarischer Staatsbürger war und sich damit nach dem Anschluß Österreichs im März 1938 noch einigermaßen sicher fühlen konnte, reiste er am 22. Juni dieses Jahres mit seiner Familie nach London ab. Daß Franz Lehár, den er nie so richtig leiden konnte und den er immer abwertend als den "Slowaken" (wegen seiner Geburt im slowakischen Komarno) bezeichnete, als Liebling Hitlers im Reich bleiben konnte, erzürnte ihn ungemein.

Im Herbst entschloß er sich, nach Paris überzusiedeln, da die Stadt eine Art Zentrum der österreichischen Emigranten darstellte. Aber auch hier wurde er erneut von tiefer Niedergeschlagenheit ergriffen und so entschloß er sich, vor allem auf Druck Veras, abermals zum Wechsel. Am 28. März 1940 betraten er und seine Familie amerikanischen Boden. Bald bezog die Familie ein Haus in Beverly Hills. Immerhin zeigte man in Hollywood Interesse an seiner Kunst, was aber sein Heimweh nach Europa nicht verhinderte. "Der ewige blaue Himmel macht einen krank."

Inzwischen hatte er fast zehn Jahre nichts Wesentliches mehr komponiert, doch ging im Juli 1945 in New York "Marinka" mit gewissem Erfolg über die Bühne, eine Geschichte um die Tragödie des Kronprinzen Rudolf und seiner Geliebten Marie Vetsera. Die Nachricht vom Tod seiner beiden Schwestern, die als jüdische Zwangsarbeiterinnen Ende 1944 in Budapest ums Leben kamen, löste bei Kálmán ein Herzleiden aus, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Im Juni 1949 kehrte er nach Europa zurück, im Jahr darauf erlitt er einen ersten Schlaganfall. Ein zweiter setzte Kálmáns Leben am 30. Oktober 1953 ein Ende. Gut eine Woche später fand er in Wien in einem Ehrengrab seine letzte Ruhestätte.

In Kálmáns musikalischem Stil verbinden sich ungarisch-folkloristische Rhythmen mit mondänen, weichen Walzerweisen Wiener Provenienz. Darin ist er eine singuläre Erscheinung, bestenfalls vergleichbar Paul Abraham ("Viktoria und ihr Husar"), doch geht diesem die melodische Erfindungskraft ab.

Kálmáns Harmonik ist weitgehend dem 19. Jahrhundert verhaftet. Seine Walzerthemen sind einfachst gebaut, eine höchst einfallsreiche Orchestrierung, die um den besonderen Charakter jedes Instrumentes weiß, verleiht der Musik aber besonderen Glanz. Kleine kontrapunktierende Gegenstimmen geben den Themen eine besondere klangliche Fülle. Die Unterhaltungsmusik kennt keinen hinreißenderen Hymnus eines Verliebten als jenes in Sextsprüngen jauchzende "Tanzen möcht' ich, jauchzen möcht' ich" aus der "Czardasfürstin". Und kaum gibt es ein innigeres Operettenlied als "O jag dem Glück nicht nach auf fernen Wegen" aus dem gleichen Werk.

Daß die Operette als Kunstgattung heute nach Zeiten der Geringschätzung wieder ernst genommen wird, ist nicht zuletzt der musikalischen, dramaturgischen und auch textlichen Qualität der 18 Bühnenschöpfungen Emmerich Kálmáns zu danken.  

Foto: Emmerich Kálmán mit der Sängerin Jarmila Novotna in New York (um 1945): Elegische Natur


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