© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

Alle Tage Maskenball
Nicht nur für Rothaut und Effendi: Das Deutsche Historische Museum in Berlin würdigt Karl May
Christian Dorn

Den Westen malte er banal, / Den Osten bestenfalls trivial / Wovon er schrieb, das sah er nie: / Alles bloße Fantasie. / Zum Lachen ging er in den Keller, / Deutschlands größter Volksschriftsteller, / Im Knast schrieb er aus Langeweile - / Halt! Das alles sind bloß Vorurteile! / Denn seine Welt bringt Poesie / In Steppe selbst und in Prärie, / Und die Karl May'sche ars vivendi / Gilt für Rothaut und Effendi".

Daß ungeachtet dieser halbironischen Verdichtung Roger Willemsens Werk und Vita von Karl May (1842-1912) wesentlich breiteren Raum beanspruchen kann, belegt die aktuelle Schau im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Auf den 800 Quadratmetern Ausstellungsfläche des Pei-Anbaus scheint nun, 95 Jahre nach seinem Tod, auch für Karl May die Zeit historischer Bestandsaufnahme gekommen. Mit der Exposition, die unter dem Titel "Imaginäre Reisen" steht, komme Karl May "das erste Mal ins Museum", so Generaldirektor Hans Ottomeyer zur Eröffnung.

Während diese Feststellung womöglich noch Widerspruch hervorrufen könnte, ist die folgende Einschätzung unstrittig: Die Musealisierung Mays sei ein "Zeichen dafür, daß ein Stück der Kulturgeschichte abgeschlossen ist". Ablesen läßt sich dies zum Beispiel an den Kindern und Jugendlichen, die heute nicht mehr darauf angewiesen sind, Karl May zu lesen, um "dazuzugehören".

Einen weiteren Grund nennt Co-Kurator Johannes Zeilinger. Die Territorien der Phantasie hätten sich verändert, die Welt eines Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah erschließe sich in einer Stadt wie Berlin nicht mehr, wie noch im Kaiserreich, zuerst aus den Reiseerzählungen Karl Mays. Denn "Orient findet heute in Neukölln oder Kreuzberg statt" - vor der eigenen Haustür also, die Karl May selbst bis zu seinen späten Lebensjahren kaum verlassen hatte. Erst 1899 brach er zu einer ausgedehnten Reise in den Orient auf, den Osten Amerikas besuchte er schließlich 1908.

Das populäre Bild des nordamerikanischen Westens wie des Osmanischen Orients, das für mehrere Generationen von Lesern prägend gewesen war für ihre Vorstellungswelt exotischer Fernen - verkörpert durch die legendären Figuren Old Shatterhand, Winnetou und Kara Ben Nemsi -, verdankte sich (neben den Anleihen bei James Fenimore Cooper) wesentlich seiner "phantasievollen Innenwelt". In der Selbstmythologisierung hatte May in der 1910 veröffentlichten Autobiographie diese Fähigkeit einem Schicksalsschlag in der Kindheit zugeschrieben. Als fünftes von vierzehn Kindern geboren, von denen neun unmittelbar nach der Geburt starben, erblindete May angeblich infolge einer Erkrankung noch während seines ersten Lebensjahres. Erst nach vier Jahren habe er das Augenlicht wiedererlangt. In dieser Zeit habe sich seine Erfindungsgabe ausgebildet.

Bestaunenswert ist diese zweifelsohne auch aus heutiger Sicht. Als armer Webersohn zur Welt gekommen, machte May als Jugendlicher mit Arbeitshäusern und Besserungsanstalten Bekanntschaft. Sein ungestümes Temperament brachte ihn wiederholt mit den Gesetzen in Konflikt, "und anstatt sich auf den Schlachtfeldern des deutsch-französischen Krieges ehrenvoll auszuzeichnen, hatte er die Reichsgründung als rechtskräftig verurteilter Dieb und Hochstapler hinter Gefängnismauern erlebt" (Hans-Christoph Buch).

1874 aus der Haft entlassen, mußte er sich bis 1893 als Autor von Kolportage- und Fortsetzungsromanen verdingen, bis sich Ruhm und finanzieller Erfolg für seine Reiseerzählungen einstellten. In einem Zeitalter, als der Drang zur Verkleidung Konjunktur hatte, indem er zur Kompensation eigener (Nicht-) Identität diente, inszenierte sich May in seiner Villa als Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi - ein vorbestrafter Popstar, der mit seinem Rollenspiel exemplarischer Ausdruck des Zeitgeists war. So seufzte angesichts der Kostümierungssucht Kaiser Wilhelms II. dessen Vertrauter Graf zu Eulenburg: "Alle Tage Maskenball".

May avancierte bald zum meistgelesenen Autor seiner Zeit. Die Leserschaft reichte von der Dienstbotenkammer bis zum Kaiserhaus. Mit mehr als 200 Millionen verkaufter Bücher in über 40 Sprachen gilt er noch heute als der weltweit erfolgreichste und auflagenstärkste deutschsprachige Schriftsteller.

Das macht um so mehr neugierig auf die "Heimholung" Mays ins Museum. Die in zehn Bereiche gegliederte Schau beginnt mit Selma Werners symbolistischer Bronzebüste "Winnetou" (um 1925). Sie steht paradigmatisch für die ikonenhafte Rezeption des "edlen Wilden". In weiteren Räumen werden die Lebensstationen Mays rapportiert und die Topoi seiner Reiseerzählungen aufgeschlüsselt.

Am wohl überraschendsten sind die Ausstellungsstücke im Bereich "Nachleben", wo auch skurrile Fundstücke aus dem Dritten Reich auftauchen. Zu sehen ist etwa ein Exemplar von "Oberstabsarzt Winnetou" um 1942 (Kriegsbücherei der deutschen Jugend, Heft 134) sowie Die Illustrierte der Glauchauer Zeitung (1934, Nr. 1) mit der Reportage "Hitlerjungen auf den Spuren Karl Mays". Bereits im April 1933 hatte die Münchner Presse aus der Residenz Adolf Hitlers auf dem Obersalzberg berichtet: "Auf einem Bücherbord stehen (...) deutsche Jungens, hört her! (...) eine ganze Reihe Bände von - Karl May!"

Auch deswegen erscheint als zweifellos geheimnisvollste Stelle der Ausstellung jenes Plakat, das Karl Mays Vortrag mit dem Titel "Empor ins Reich der Edelmenschen" am 22. März 1912 im Wiener Sofiensaal ankündigt. Es sollte sein letzter Auftritt sein, acht Tage später verstarb May. Die Legende will es, daß an jenem Abend auch Hitler und den 3.000 Besuchern geweilt haben soll. Damals Bewohner des Obdachlosenasyls, habe er auf dem billigsten Stehplatz für fünfzig Heller dem begeistertenden Vortrag gelauscht. Die letzten Worte Mays auf dem Sterbebett sollen gelautet haben: "Sieg, großer Sieg!"

May, der damit Bezug nahm auf die Wiederherstellung seiner Reputation und auf seinen utopischen Entwurf einer in Brüderlichkeit verbundenen Menschheit, konnte nicht ahnen, in welchen Kontext sein "Winnetou" dereinst gestellt würde: "Im Kriegswinter 1943, während die in Stalingrad eingekesselte achte Armee in heroischem Abwehrkampf einem zahlenmäßig überlegenen Gegner widerstand, las H. Nacht für Nacht im Winnetou, den er als Vorbild für jeden Kompanieführer pries."

Das lakonische Fazit entstammt dem grandiosen Sammelband politischer Novellen von Hans-Christoph Buch ("Wie Karl May Adolf Hitler traf. Und andere wahre Geschichten", Eichborn, 2003). Zwar ist dieser nicht im Literaturverzeichnis des zu dieser Ausstellung herausgegebenen Kataloges enthalten. Gleichwohl ist letzterer empfehlenswert, nicht nur wegen der opulenten Ausstattung, sondern auch für seine kultursoziologischen Exkurse.              

Die Ausstellung "Karl May. Imaginäre Reisen" ist bis zum 6. Januar 2008 im Deutschen Historischen Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Internet: www.dhm.de. Der Katalog mit 356 Seiten und 288 Farbabbildungen kostet im Museum 25 Euro.

Foto: Karl May als Kara Ben Nemsi verkleidet (1896) und als Old Shatterhand (1896)


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