© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

Rußland fehlen die Liberalen
Tagung der Naumann-Stiftung
Christian Dorn

Liberalismus ist unglaublich unpopulär", beklagte Mark Urnov, Dekan der Fakultät für angewandte Politikwissenschaft an der Moskauer Hochschule für Wirtschaft, vorige Woche bei einer Veranstaltung der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Berlin. Er brachte damit die Lage der russischen Liberalen auf den Punkt, die auch bei den kommenden Duma-Wahlen im Dezember erneut keine Chance haben, ins Parlament einzuziehen. Zum einen sind sie (Jabloko, Union rechter Kräfte/SPS und die neue Bürgerliche Kraft) zersplittert. Und viel entscheidender: Es gebe zu wenig russische Liberale.

Urnov, der Präsident der Expertisa-Stiftung ist, führte dies auf die dreieinhalb Generationen umfassende Indoktrination in der Sowjetzeit zurück. Sowohl im Bewußtsein der Massen wie bei den Eliten dominiere ein Minderwertigkeitskomplex, und die Demographie bereite ernsthafte Probleme, da Rußland pro Jahr eine Million Einwohner verliere. Das einzige, was heute -  auch in bezug auf die Szenarien der Herrschaftssicherung von Präsident Wladimir Putin - prognostiziert werden könne, sei die "potentielle Destabilisierung", so Urnov.

Auch andere Vorträge zum Konferenzthema "Ansätze für eine neue Rußland-Politik" waren aus liberaler Sicht wenig optimistisch. So schilderte der russische Soziologieprofessor Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums in Moskau, wie sich in den vergangenen Jahren unter Putin jene "Vertikale der Macht" etabliert habe, die vor allem durch einen Prozeß autokratischer Herrschaftssicherung gekennzeichnet sei.

Nach den Auskünften Jurij Dschibladses vom Moskauer Center for the Development of Democracy werde seit einem Jahr auch das Recht auf Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt. Mit Verweis auf die neuen Anti-Extremismus-Gesetze werde gegen politisch Andersdenkende vorgegangen. Ein sich als "Patriotismus" tarnender Nationalismus suche - in "zunehmend stalinistischer Manier" - nach inneren und äußeren Feinden.

In russischen Sicherheitskreisen herrsche eine "orangene Paranoia" (eine Anspielung auf die "Revolution" in der Ukraine 2004) vor, Nichtregierungsorganisationen würden der Spionage verdächtigt. Die fast vollkommene staatliche Kontrolle der Massenmedien habe zu einer gesellschaftlichen Gleichschaltung geführt, "gegen die nicht mehr anzukommen ist".

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Michael Link, studierter Übersetzer für Russisch, ging mit dem erst kürzlich in Wiesbaden in Anwesenheit von Putin und Angela Merkel veranstalteten "Petersburger Dialog" hart ins Gericht. "Eine strategische Partnerschaft?" - er habe bis heute keine Antwort darauf erhalten, was dies sei. Die Bundesregierung habe die Aufgabe, diese Frage zu beantworten. Gleichwohl konstatierte er Fortschritte unter der CDU-Kanzlerin, welche die kritischen Punkte "zwar hinter verschlossenen Türen, da aber in aller Härte" anspreche.

Zum Schluß nannte Mark Urnov noch weitere erschütternde Zahlen: 1913, als in Rußland eine Art Prohibition eingeführt wurde, lag der durchschnittliche Alkoholverbrauch pro Kopf und Jahr bei 2,5 Liter. Im heutigen Rußland seien es schätzungsweise 16 bis 17 Liter. Es gebe mittlerweile ganze Regionen, die völlig dem Alkoholismus verfallen seien. Sarkastisch beendete daher der Tagungsmoderator die aufschlußreiche Veranstaltung, als er zum anschließenden Empfang einlud: "Dort können Sie den Alkoholverbrauch an den russischen Durchschnitt annähern."


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