© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

Erdrutschsieg an der Weichsel
Polen: Wirtschaftsliberale Partei von Donald Tusk gewinnt die vorgezogenen Parlamentswahlen / Modifizierung der Außenpolitik angekündigt
Andrzej Madela

Der Wahlkrimi begann bereits um 20 Uhr, als die politische Welt in Polen auf die erste Hochrechnung wartete. Doch statt dessen erschien ein Sprecher der Landeswahlleitung, um mitzuteilen: In einigen Wahllokalen in Nordpolen sei man noch am Wählen, da die Wahlkarten nicht rechtzeitig zur Verfügung gestanden hätten. Um 20.30 Uhr erklärte er, in manchen Warschauer Wahllokalen seien die Wahlkarten schon um 17.30 Uhr ausgegangen - schließlich konnten die ersten Hochrechnungen erst gegen 23.00 Uhr verkündet werden, als alle Wahllokale geschlossen hatten.

Und die dann bekanntgegebenen Prognosen waren eindeutig: Die wirtschaftsliberale Bürgerplattform (PO) kam auf beeindruckende 43,1 Prozent, die bisherige sozialkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nur auf 30,9 Prozent. Das vorläufige amtliche Endergebnis vom Montag bestätigte den Machtwechsel: Die PO von Oppositionsführer Donald Tusk wurde mit 41,4 Prozent (+17,3/209 von 460 Sitzen) mit Abstand stärkste Kraft im Sejm. Die PiS legte zwar 5,2 Prozent und elf Sitze zu, doch mit 32,2 Prozent und 166 Mandaten kommt die Partei von Premier Jarosław Kaczyński nur noch auf Rang zwei.

Zudem landeten die einstigen Koalitionspartner im parlamentarischen Aus: die linkspopulistisch-bäuerliche Samoobrona von Ex-Vizepremier Andrzej Leppers verlor 9,9 Prozentpunkte und kommt nur noch auf 1,5 Prozent. Die nationalkatholische Liga Polnischer Familien (LPR) des Ex-Bildungsministers Roman Giertych verlor 6,7 Prozent. Die LPR liegt nun mit 1,3 Prozent nur noch knapp vor den auf etwa ein Prozent angewachsenen Altkommunisten (PPP). Dritte Kraft im Sejm ist mit 13,2 Prozent (53 Sitzen) das Wahlbündnis LiD, das Postkommunisten (SLD/2003: 11,3 Prozent), linksliberale Ex-Solidarność-Aktivisten und andere linke Splitterparteien vereint, die 2003 an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Die vierte Sejm-Fraktion stellt die traditionsreiche bäuerlich-konservative Volkspartei PSL, die mit 8,9 Prozent (+1,9) 31 Abgeordnete entsendet.

Der 50jährige Tusk kann sich nun die Koalitionspartner aussuchen - sowohl mit der PSL als auch mit der LiD hätte er eine passable Mehrheit. Auch eine außenpolitische Kursänderung wäre mit beiden möglich - die PSL gehört wie die PO oder die CDU/CSU zur EVP-Fraktion im Europaparlament, die SLD zählt zu den EU-Sozialdemokraten.

Tusk strebt eine Wiederannäherung an die EU (hier traditionell an Frankreich) an. "Wir werden Polen in das Herz Europas zurückführen", versprach Tusk-Sprecher Bronisław Komorowski. Als ersten Schritt wolle die künftige PO-Regierung die EU-Grundrechtscharta für verbindlich erklären, kündigte PO-Vize Jacek Saryusz-Wolski noch in der Wahlnacht an. Die bisher enge Bindung an die USA hingegen steht zur Disposition, im Wahlkampf versprach Tusk einen Rückzug der polnischen Irak-Truppen und eine Nachverhandlung der Stationierung des US-Raketenabwehrsystems. Polen wird unter einem Premier Tusk wohl "pflegeleichter" - auch für Deutschland und Rußland. Die polnische Rechte ist vorerst vernichtend geschlagen. Im Senat, der zweiten Kammer, hat die PO nun sogar eine komfortable Zweidrittelmehrheit.

Interessant ist, daß der Wahlverlierer PiS insgesamt etwa fünf Millionen Wähler mehr erreicht hat als 2005. Damals operierte die PiS mit Bildern von erlittenem Unrecht, ungesühnter (kommunistischer) Schuld und praktizierter staatlicher Unsolidarität, die die Mehrheit im Lande ins politische und soziale Aus dränge.

Innerhalb von zwei Jahren schaffte es Kaczyńskis Partei allerdings, durch Sozialgesetzgebung, geänderte staatliche Praxis und wirtschaftlichen Erfolg diese Erinnerungen zwar nicht verschwinden, wohl aber verblassen zu lassen. Das heutige Polen ist nicht mehr eines der Erniedrigten und Beleidigten, sondern ein Land im Aufschwung, dessen Gesellschaft nicht mehr vorrangig vom Drang nach Entkommunisierung und radikaler sozialer Gerechtigkeit lebt.

Erstes Opfer dieses Bewußtseinswandels ist die PiS selbst, die für den Erfolg in Wirtschaft und Gesellschaft mitverantwortlich zeichnet. Nur in den armen vier östlichen Woiwodschaften Podlachien, Lublin, Heiligkreuz (Świętokrzyskie) und Karpatenvorland erreichte sie noch die Mehrheit.

Der PO-Sieg ist vor allem auf die unterschiedliche Mobilisierung der Wahlklientel der jeweiligen Parteien zurückzuführen. Die Wahlbeteiligung stieg von 40,6 auf über 53 Prozent. Das allein zeigt schon, daß ein nicht unerheblicher Teil der Wähler aus der Passivität herausgeholt wurde - letztlich zugunsten der PO, die den Urnengängern mit Erfolg nahelegte, es gehe diesmal um eine Richtungsentscheidung zwischen einem europafreundlichen und einem von ungesunden (Sonderweg-)Ambitionen nicht freien Polen. Erste Analysen zeigten, daß die PiS zwar beachtlich bei den 50- bis 69jährigen zulegen konnte, dieser Erfolg aber in keinem Verhältnis steht zum Einbruch in der Gruppe der 20- bis 49jährigen. Bei der jungen, dynamischen und zunehmend auf Mobilität und städtischen Lebensstil setzenden Generation hatte die PO keine Konkurrenz. Die mediale Überlegenheit der PO in Presse und Fernsehen trug auch einen entscheidenden Teil bei.

Ein um zwei Wochen früherer Wahltermin hätte der PiS noch einen deutlichen Sieg beschert. Kaczyńskis verlorenes Fernsehduell gegen Tusk trug ebenso zum Stimmungsumschwung bei wie die sich kurz vor der Wahl häufenden Versuche des Zentralen Antikorruptionsbüros (CBA), Oppositionspolitiker in Zusammenhang mit Skandalen zu bringen.

Tusk wird schon bald von Staatspräsident Lech Kaczyński den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten. Und obwohl über das Präsidentenamt nicht abgestimmt wurde, gehört auch dessen Inhaber mit zu den Verlierern. Er muß seinen Bruder als Premier zu entlassen. Die höhere Wahlbeteiligung stärkt den künftigen Premier Tusk. Dessen Modifizierung der Außenpolitik wird Lech Kaczyński daher nicht viel entgegenzusetzen haben - wenn er keine Staatskrise heraufbeschwören will.


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