© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

"Alles andere als vaterlandslos!"
Zur Krise der SPD gehört auch die Verleugnung ihrer patriotischen Geschichte. Dabei hat sie Grund zum Stolz
Moritz Schwarz

Herr Ammon, Sie haben 1981 das Buch "Die Linke und die nationale Frage" veröffentlicht. Was haben beide miteinander zu tun?

Ammon: Oh, sie sind im Ursprung nahezu identisch!

Das hört sich heutzutage ungewöhnlich an.

Ammon: Erstaunlich, daß das Wissen und Bewußtsein über die Bezüge von Staat, Demokratie und Nation in der SPD - aber nicht nur dort - weitgehend in Vergessenheit geraten ist.

Während sich mittlerweile sogar ehemalige "antideutsche" Linke wie Oskar Lafontaine oder Jürgen Elsässer der Vorzüge des Nationalstaats erinnern, ist dies vom heute beginnenden SPD-Parteitag in Hamburg nicht zu erwarten. 

Ammon: Kaum. Damit klammert die SPD einen wesentlichen Teil ihrer Tradition und auch ihres sozialen Wesens aus. Das Problem ist, daß die SPD nur die Krise der Arbeitsgesellschaft und des Sozial- oder Wohlfahrtsstaats wahrnimmt. Sicher ein zentrales Thema, nicht nur der Sozialdemokratie, sondern unserer Zeit, der Zeit des postindustriellen Kapitalismus. Zu glauben, daß Politik nur aus Fragen der Arbeits- und Sozialordnung besteht, zeigt, daß der Begriff des Politischen - ich meine nicht Carl Schmitt, sondern den ehrwürdigen Begriff der politeia - im Verfall begriffen ist. Als Überbau der von neuartiger Dynamik und Desintegration gekennzeichneten Gesellschaft dient allein der Bezug auf die NS-Verbrechen, wenn man will: ein "negativer Nationalismus".

In welchem Zusammenhang stehen SPD und Nation?

Ammon: Die Sozialdemokratie geht im 19. Jahrhundert aus der deutschen Nationalbewegung hervor, ein Produkt der Bewegung der 48er-Revolution. Der nationale Rahmen als Ort der sozialen Emanzipation war für Sozialisten selbstverständlich. Selbst im Kommunistischen Manifest war die Nation der Bezugsrahmen.

Können Sie das veranschaulichen?

Ammon: Die Nationalbewegung, insbesondere der vormärzliche Radikalismus, zielte auf die Erhebung der Untertanen der Fürstenstaaten zu Bürgern des Nationalstaates  sowie auf die soziale Emanzipation von Relikten der alten Feudalordnung und vom "Pauperismus", auf Volkssouveränität anstelle der monarchischer Souveränität, auf die Überwindung der Stände und Klassen in einem "freien Volk". Wer liest heute noch etwa die Texte des sozialrevolutionären Dichters Georg Büchner im Hessischen Landboten? Der polemisiert gegen die "Vornehmen" und "Reichen" - aber beschwört zugleich den alten Traum der Deutschen von einem "Volkskaiser". Die Idee der sozialen Gerechtigkeit verband sich mit dem nationalen Programm. Schon im frühen Vormärz brachten die nationalistischen Burschenschaften einen sozialradikalen linken Flügel hervor, aus dem später gar die Kommunisten hervorgingen. Der 48er Wilhelm Liebknecht, Nachfahre Luthers, Neffe des radikalen Pfarrers und Büchner-Mitverschwörers Ludwig Weidig und eine der Führungsfiguren der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert, nannte im Leipziger Hochverratsprozeß 1872 als seine beiden Ideale die Emanzipation der Arbeiterklasse - und die Einheit Deutschlands: alles andere als "vaterlandslose Gesellen"!

Die nationale Tradition der SPD beginnt also nicht erst mit Kurt Schumacher?

Ammon: Sie zieht sich durch ihre ganze Geschichte. Ich möchte das zuspitzen: Ende des 19. Jahrhunderts avanciert die SPD indirekt zur staatstragenden Partei. Sie sorgt maßgeblich für die sogenannte "negative" Integration der Arbeiterschaft ins Kaiserreich. 1914: "In der Stunde der Gefahr lassen wir Sozialdemokraten das Vaterland nicht im Stich!", so SPD-Fraktionschef Hugo Haase - der große Sündenfall, unverzeihlich, ach ja ... 1918/19 rettet die Mehrheitssozialdemokratie die parlamentarische Republik - und die alte Sozialordnung. SPD-Reichspräsident Ebert proklamiert das "Deutschlandlied" als Nationalhymne. Dennoch tritt in der Weimarer Republik, als die Sozialdemokraten die Entrüstung über Versailles der "nationalen Rechten" überlassen, das nationale Pathos anscheinend zurück. Es ist in den Schriften des Staatsrechtlers Hermann Heller - wie "Staat und Nation" - oder bei jungen Sozialdemokraten wie Carlo Mierendorff, Theodor Haubach und Adolf Reichwein äußerst lebendig. Andererseits wirkten die Sozialdemokraten in den Krisenjahren gegenüber der Demagogie der NSDAP und KPD hilflos. Der Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer Julius Leber hat nach der "Machtergreifung" entsprechende Kritik geübt. Nach 1945 tritt der Kriegsfreiwillige von 1914 Kurt Schumacher als wortmächtiger Repräsentant der nationalpatriotischen Tradition hervor - für seine Gegner ein "deutscher Nationalist". Mit seinem Tod 1952 endet der Primat des Nationalstaats keineswegs. Noch in den fünfziger Jahren kämpft die SPD gegen Nato und Westintegration, weil für sie die Einheit Deutschlands Vorrang hat.

Wann und warum endet dann die nationale Orientierung der SPD?

Ammon: Die Kehrtwende markiert anscheinend die Ostpolitik Ende der sechziger Jahre. Bemerkenswert ist, daß deren Protagonisten - ich kann das belegen - Egon Bahr und Willy Brandt diese tatsächlich als langen Weg zur Wiedererlangung der deutschen Einheit betrachteten. Das Problem: Es wurde in der Öffentlichkeit - von Gegnern wie Anhängern - nicht so verstanden.

Warum spielen im historischen Gedächtnis der rund 140 Jahre alten SPD die etwa hundert "nationalen" gegenüber den nur vierzig "postnationalen" Jahren kaum mehr eine Rolle?

Ammon: Zum einen ist da heute der Bedeutungsverlust des Nationalstaates in der "globalen" Welt, zum anderen der Einfluß der Intelligenzija - Stichwort Habermas -  sowie nicht weniger Achtundsechziger, denen es leichtfiel, in der SPD "durch die Institutionen zu marschieren". Als Brandt 1989 sagt: "Nun wächst zusammen, was zusammengehört" - was ein "anstößiges" romantisch-organisches Nationsverständnis offenbart -, stellt dies geradezu einen Tabubruch dar.

Ohne die Wiedervereinigung hätte man auch sagen können: Vergangen ist vergangen. Der ehemalige SPD-Bundesminister Rainer Offergeld (siehe Interview unten) empfiehlt, den Wandel weg von der Nation zu akzeptieren. Kann die SPD so einfach darauf verzichten?

Ammon: Sie kann es, aber ob es ihr guttut? Sie dürfte es nicht, weder was ihren Anspruch auf soziale Sicherung noch auf demokratische Teilhabe noch in bezug auf die NS-Geschichte angeht. Linksintellektuelle wie Jean Ziegler oder Jürgen Elsässer warnen vor der Auflösung des Nationalstaates als letztem Schutzraum sozialer Sicherheit. Und der Anschluß der SPD an das vor allem von Helmut Kohl verfolgte Konzept des Transfers nationaler Souveränität an die EU stellt in mancherlei Hinsicht eine Entdemokratisierung dar. Wie Teilhabe in der Massendemokratie zu verwirklichen ist, ist eine grundsätzliche Frage. Womöglich ist die Nation heute als Rahmen nicht mehr geeignet. Jedenfalls sind wir vom alten Ideal der politischen Emanzipation weiter entfernt denn je, die Bevormundung des Bürgers ist allerorten spürbar. Das andere Problem liegt zum einen in der liberalen Wirtschaftsverfassung EU-Europas, zum anderen in der Globalisierung der Wirtschaftsprozesse. Damit wird die Sozialdemokratie Stück für Stück des Instruments Nationalstaat beraubt, das sie seit jeher zur Umsetzung ihrer staatsinterventionistischen, keynesianisch angelegten Sozialpolitik benötigt.

Über diesen Verlust wird in Hamburg allerdings wohl kaum diskutiert werden. Was also wird aus der SPD in Zukunft werden?

Ammon: Eine der politischen Karriereleitern im Parteienstaat. Sie schmückt sich mit dem Lorbeer ihrer demokratischen Vergangenheit und ihrer antinazistischen Standhaftigkeit. Wie lange dieses Selbstbild in einer veränderten Gegenwart und einer unklaren Zukunft noch trägt, wissen Leute wie Beck (Soziales), Gabriel (Ökologisches), Thierse (Pastorales) selbst nicht so genau. Vorerst steht die SPD als Partei des öffentlichen Dienstes von seiten der "Linken" (Rentner, Funktionäre, Ex-Proletarier), NPD (Prolls), der Grünen (Moralisten-Hedonisten) und CDU (Frauen für Angela von der Leyen) unter Druck.

 

Herbert  Ammon: Der ehemalige Sozialdemokrat veröffentlichte 1981 zusammen mit Peter Brandt, dem Sohn Willy Brandts, den Band "Die Linke und die nationale Frage" (Rowohlt), ein "Plädoyer für eine nationale Politik der Linken" (Friedrich Ebert Stiftung). Als ein Protagonist des "Robert- Havemann-Briefes" entwickelte er Anfang der achtziger Jahre friedenspolitische Konzepte jenseits der Blocksysteme. Der Historiker und Publizist schrieb zahlreiche Beiträge in Zeitungen - wie FAZ, taz oder Welt - sowie für Zeitschriften und Sammelbände. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie an der FU Berlin. Geboren wurde er 1943 in Brieg/Schlesien.

 

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