© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Denker aus Notwehr
Einblicke in persönliche Gedanken Oswald Spenglers
Frank Lisson

Ist das Private das Politische? Wer Spenglers intime Aufzeichnungen "Eis heauton" (An sich selbst) aus den Jahren 1913 bis 1919 liest, die, seit langem in weiten Teilen veröffentlicht, nun erstmals vollständig vorliegen, wird die Frage wohl bejahen.

Gewohnt, keine Unterscheidung mehr zu treffen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, da die mediengesteuerte Massendemokratie nach totaler Transparenz verlangt, tut sich der heutige Leser schwer, die Intention zu begreifen, mit der ein solcher Text verfaßt wurde. "Träumer, Heuchler, Feigling. Linkisch, verschlossen, ohne Tatkraft, voll glühender (oft extrem sinnlicher) Träume, immer Angst vor dem Entschluß. (...) Meine schreckliche Angst vor allem Weiblichen, maßlos lächerliche Schüchternheit." Hier offenbart jemand, und sei es zunächst nur sich selbst, seine großen Schwächen, sein Leiden an sich selbst, das ein Leiden an überhöhten Erwartungen ist. Eine "neue Art v. Biographie: rein seelisch. Wie die Seele versucht Ausdruck zu finden. Einsamkeit", das war Spenglers poetisches Ziel.

Wollte er diese schonungslose Einsicht in die Abgründe eines als durch und durch mißglückt empfundenen Lebens voll Angst und Hemmungen wirklich veröffentlichen? Wußte der Mann denn nicht, was er damit preisgab? Und welche Waffe er seinen Gegnern in die Hand legte? Hält man so etwas deshalb nicht besser unter Verschluß?

Ja und nein. Denn so "peinlich" all diese Selbstbezichtigungen einerseits sein mögen, weil sie zum schnellen Spott und zu der Überheblichkeit verleiten, es mit einem klaren psychologischen Fall zu tun zu haben, so nachdenklich und zurückhaltend stimmen sie andererseits. Es kommt eben auf die Absicht an. Wie vielen Konservativen und naiven Bildungsbürgern fehlte auch Spengler die Infamie ihrer linken oder faschistischen Gegner. Seinem Wesen nach eher gutmütig bis hilflos ("Ich bin von Natur nicht boshaft. Im Gegenteil"), träumte sich Spengler einen Ausweg aus den eigenen Mängeln herbei, der kein raffiniertes Lavieren war, sondern ein scharfer Schnitt. Und da Kulturen und also auch Gesellschaften gleich Menschen "Lebewesen höchsten Ranges" seien, die wuchsen und vergingen, projizierte er sein privates Schicksal auf das des gesamten Abendlandes. Aus der Kultur ging unabänderlich die Zivilisation hervor, ein Stadium, in dem andere Werte und andere Qualitäten gefragt waren - Werte und Qualitäten, die er nicht besaß, aber sehr wohl erkannte. So führte Spengler seit Kindertagen ein Leben auf Distanz.

Sein Denken war ein Denken aus Notwehr: immer auf dem schmalen Grat einer Idiosynkrasie, die ihn, wie er meinte, weiter blicken ließ als andere - auch auf sich selbst. Doch es war die Perspektive eines "ängstlichen Adlers", wie Werner Ross die geistesverwandte Persönlichkeit Nietzsches einmal treffend charakterisierte. Rettung lag für Spengler allein im Trotz, in der Flucht nach vorn. Da ihm eine solche Flucht aber nur denkend und schreibend möglich war - denn alle seine Schriften, auch und gerade "Eis heauton" sind ein solcher Versuch -, erwartete er vom Staat, daß dieser mit "römischer Härte", mit einem neuen "Cäsarismus" auf die irreversiblen Verhältnisse reagiere, wolle er den kommenden Herausforderungen der Zivilisation gewachsen sein.

"Eis heauton" ist ein in jeder Hinsicht aufschlußreiches Psychogramm, und in der Literatur- oder Philosophiegeschichte wohl beispiellos. Es legt die fragile Innenwelt eines der größten Geschichtsphilosophen und Universalhistoriker offen, dessen Persönlichkeit bis heute gern auf zwei bis drei pejorative Schlagworte reduziert wird. Deshalb war die vollständige Veröffentlichung dieses Textes seit langem ein Desiderat. Es sagt viel über die Verschlafenheit und den Mangel an Gespür für Substantielles der deutschen, insbesondere der konservativen Verlagslandschaft, daß erst jemand wie Gilbert Merlio - emeritierter Germanistik-Professor an der Pariser Sorbonne und dem geistig-politischen Mainstream ganz und gar verhaftet - kommen mußte, um in einem winzigen, aber bibliophilen und sehr sorgfältig edierenden Nischenverlag das Buch herauszugeben.

Für diejenigen, die sich die Dinge gern einfach machen und die alles, was nicht der eigenen Moral entspricht, kurzerhand wegdiffamieren, dürfte "Eis heauton" nur eine Bestätigung ihrer festgefügten Meinungen sein. Für andere jedoch, die sich mit mehr Empathie dem komplizierten Geflecht der deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts und seiner Biographien zu nähern verstehen, ein großer Gewinn.

Oswald Spengler: Ich beneide jeden, der lebt. Die Aufzeichnungen "Eis heauton" aus dem Nachlaß. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2007, gebunden, 144 Seiten, 17,90 Euro


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