© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Kobold auf des Fürsten Thron
Auf jeden Fall hat er Danzig in die Weltliteratur eingeführt: Günter Grass wird achtzig
Thorsten Hinz

Noch als 80jähriger läßt Günter Grass die Deutschen nicht gleichgültig, obwohl seine wirklich bedeutenden Werke schon Jahrzehnte zurückliegen. Im vergangenen Jahr erst löste er eine Großkontroverse aus, als er sich zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS bekannte und anschließend verwundert registrierte, daß die Gnadenlosigkeit und Selbstgerechtigkeit, die er in der Vergangenheit seinen Gegnern zuteil werden ließ, ihn nun selber ereilte.

Der Literaturnobelpreisträger von 1999 sitzt auf dem Thron des deutschen Dichterfürsten, ohne deswegen ein Repräsentant zu sein, sofern man darunter eine ehrwürdig-konsensuale Erscheinung versteht, in der sich kollektive Wunschträume vereinen. Eher ist er ein Kobold geblieben, ein - um erneut den Vergleich zu strapazieren - leibhaftiger Oskar Matzerath, das Sinnbild des nie erwachsen gewordenen Deutschen im 20. Jahrhundert. Aber auch die Parallele mit politischen Urgesteinen wie Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß bietet sich an, die gleichfalls Freund und Feind noch in Wallung brachten, als sie ihre politische Zukunft und Gegenwart längst hinter sich hatten. Es waren, verglichen mit den meisten, die sie umgaben und die nach ihnen kamen, doch ganze Kerle!

Die Kaczynskis nennt er ein "Unglück für Europa"

Müßig, an dieser Stelle Spekulationen anzustellen, was von Grass überdauern wird. Auf jeden Fall hat er Danzig, wo er am 16. Oktober 1927 geboren wurde, in die Weltliteratur eingeführt, wie der Danziger Stadtpräsident Pawel Adamowicz jetzt wieder betonte. Längst ist er nicht mehr nur ein deutsches, sondern auch ein polnisches, mindestens ein deutsch-polnisches Ereignis. Wenn man die Aussage wagen kann, daß das deutsche Danzig 1945 nicht völlig untergegangen ist, seine Geschichte vor Ort sogar symbolisch fortgeschrieben wird, dann verdankt sich das im wesentlichen den Büchern von Grass.

Der auch in Deutschland bekannte polnische Schriftsteller Pawel Huelle, geboren 1957 in Danzig, hat bekundet, daß Grass ihm und seiner Generation den Zugang zur deutschen Geschichte der Stadt eröffnet habe. Huelle ist manisch angezogen und inspiriert von der Danziger Vergangenheit wie vom Werk des deutschen Kollegen. In seinen Romanen und Erzählungen changieren die Zeitebenen, durchdringen sich deutsche und polnische Geschichten und Schicksale, bleibt die polnische Gegenwart ohne die deutsche Vergangenheit bruchstückhaft. Oder Stefan Chwin, 1949 ebenfalls dort geboren. Sein Roman "Tod in Danzig" erzählt davon, wie nach Kriegsende die deutschen Bewohner eines Hauses und nachrückende Ansiedler aus Ostpolen einen Modus vivendi entwickeln. Als für Herrn Hannemann, die deutsche Hauptfigur, die Stunde der Vertreibung kommt, begleiten ihn die polnischen Kinder zum Zug. Seine Abfahrt hinterläßt bei ihnen das Gefühl gähnender Leere. Was nichts anderes heißt, als daß sie die Stadt erst dann geistig und emotional bewohnen werden, wenn deren deutsche Geschichte ein Teil ihrer selbst geworden ist. Falls das Wortgeklapper über Versöhnung, Brückenbau, die gemeinsame europäische Zukunft usw. tatsächlich irgendeinen Sinn hat, dann offenbart er sich am ehesten in solchen grenz- und sprachüberschreitenden literarischen Metamorphosen.

Wer Grass seinen harschen, besserwisserischen Gestus nicht nachsehen mag, darin eine Nestbeschmutzer-Manie erblickt, möge bedenken, daß er auch die zwei Kaczyński-Unholde ein "Unglück" für Polen und Europa genannt und die Hoffnung auf ihre baldige Abwahl geäußert hat. Dafür hat die Kaczyński-Partei die große Geburtstagsfeier, die Danzig für seinen Ehrenbürger ausgerichtet hat, boykottiert und mit gehässigen Kommentaren versehen.

Es gibt keinen Grund, sich ausgerechnet am 80. Geburtstag von Günter Grass mit diesen Giftzwergen gemein zu machen.


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